Dadurch der Diskurs zu einem Vernichtungsdiskurs geworden. H. »der Feind des Menschengeschlechts«. Ein anthropologisches Problem: die menschliche Natur selbst, ihre personifizierte Unmenschlichkeit. Totale Absage an Politik: »Keine denkbare Politik kann es mit einem Feind des Menschengeschlechts aufnehmen.« E. lässt die Logik der Endlösung in sich ein. – Mit Schrecken sehe ich, wie der Krieg den geschätzten E. um den Verstand bringt. Aber ich vermag mich nicht frontal gegen ihn zu stellen, abgesehen von der propagandistischen Wellenlänge. Denn zu den widersprüchlichen Bestimmungen dieses Krieges gehört auch die Parallele zum Nazismus. Freilich bildet E. auch diesen mythisch-geschlossen ab, als politisch verkörperten Todeswunsch.
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Rainer Gruenter konstatiert die periodische Wiederkehr der »levée en masse in den Rückschritt«. Man könne heute »von einer Konjunktur des Schreckens sprechen«. Statt des apokalyptischen Reiters hat er den »apokalyptischen Anarchisten« im Visier. Nennt keinen. Als Begleitpersonal »die Verkäufer der Ängste«. »Epidemische Untergangssucht und Gewaltsympathie«. Es sei daher möglich, dass einer der »apokalyptischen Anarchisten« ein Super-Tschernobyl »als fundamentalistisches Warnspiel für eine ebenso unbelehrbare wie unersättlich weltverzehrende Menschheit inszenieren kann«. Im Zeitgeist und seinen typischen Gebilden werde dies vorangetrieben durch »eine pathologische moralische und geistige Ungeduld, die der heute von Historikern beobachteten Beschleunigung der Geschichtszeit« entspreche. In dieses Bild fügt sich Enzensbergers Husseinmythos. »Störend kann der despotische Diktator, können die Eliten, aber auch die machtlosen und machtverachtenden Minderheiten […] sein, die sich der Norm der anarchistischen Ungeduld widersetzen.« – Der Krieg ist los, die Krise kommt von überall her.
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Gabriele Lindner hat sich heute vom Wörterbuchprojekt verabschiedet. Sie bringe es nicht zusammen mit den Belastungen des Moments. Fast alle, die nach dem Zusammenbruch der DDR zu uns gestoßen waren, sind inzwischen wieder verschwunden. G.L. grüßte von Otto Reinhold, der die Radiosendung über die DDR-Philosophie gehört hat und mir bestellen lässt, meine Äußerungen hätten ihm am meisten zugesagt. Ich ließ mir seine Telefonnummer geben.
Immer wieder Trauer darüber, dass sich nicht die Revolution-in-der-DDR hat halten können.
10. Februar 1991
Kulturkritik als Melancholie des Kapitals. – »Ganz gleich, ob von Fastfood-Ketten die Rede ist, vom Bevölkerungswachstum, von Übertötungskapazitäten in der Hochrüstung, vom ›Siegeszug‹ der wissenschaftlichen Rationalität, von der Steigerung des Bruttosozialprodukts, von der ›Entfesselung der Produktivkräfte‹, von der ›industriellen Massenfertigung‹ oder von der Auto-, Beton- und Kommunikationsgesellschaft: stets, wenn ein Teil seine Funktionen unkontrolliert auf Kosten aller anderen Teilfunktionen erweitert, steht die Lebensfähigkeit des Ganzen auf dem Spiel.« (Bernd Guggenberger, FAZ vom 2.2.) – Arbeitsteilige Melancholie des Kapitals, das sich da als Natur in der Natur entnennt und sich über das Entropiegesetz beugt. »Imperialismus des Partiellen«, »Chauvinismus der Art«, mit einem Wort: der Untergang der »Zuvielisation«. Alle Politiken arbeiten »letztlich nur dem großen Widersacher, der sprengenden Kraft sozialer Desintegration, in die Hand«. Weil, wer Ordnung schafft, unversehens Unordnung um ein Vielfaches vermehrt. Gruenter könnte diesen Diskurs mit im Auge gehabt haben.
11. Februar 1991
Die FAZ schreibt, dass sich Wallstreet »seit genau vier Monaten in einer echten Hausse befindet«. In Zürich und Frankfurt »fließen Milliarden vom Geldmarkt an die Kapitalmärkte«. Die Zinsen sinken.
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Lese jetzt erst Biermanns vor genau zwei Wochen datierten ZEIT-Artikel »Kriegshetze Friedenshetze«. Er argumentiert differenzierter als Enzensberger, hat nicht die US-Interessen und die Mehrschichtigkeit des Konflikts vergessen. Aber auch er bläst zum Krieg. Der Friedensbewegung wirft er vor, sie möchte jetzt »die Zerstörung der ABC-Fabriken und Raketen aufhalten, mit denen Saddam & Co Israel vernichten wollen«. Er will diese Zerstörung der Zerstörungsmittel, und ich würde sie, bliebe es dabei, ebenfalls wollen. Er sieht auch den Messecharakter des Kriegs vom Standpunkt der USA als Leistungsschau der US-Rüstungsindustrie, ebenso die Rechtfertigung der durch die Beendigung des Kalten Kriegs bedrohten Staatsausgaben fürs Militär.
Als linken Selbstbetrug, durchmischt (und z.T. manipuliert) von Heuchelei, deutet er die antiamerikanisch artikulierte Hauptlosung der Friedensdemonstranten: sofortiger und bedingungsloser Waffenstillstand. Kehrt die Losung eines PDS-Flugblatts, »Schickt Politiker in die Wüste, nicht Soldaten!«, gegen die soeben von einem Volk in die Wüste geschickten Politiker der PDS. Immer noch einmal: gegen die Endlösung, gegen die Nazis war der auch damals von miesen Interessen mitbenutzte Krieg notwendig. So der heutige: zum Schutz vor einer neuen »Endlösung« und zur Zerstörung eines Militärregimes, das ABC-Waffen einzusetzen bereit ist. Hussein-Hitler haben beide die Ausrottung der Juden vorangekündigt, beide sind »Emporkömmlinge, Tyrannen, Demagogen und Machtparanoiker«. Während man bei Hitler nicht wissen konnte, ob die Drohung leeres Wort war, weiß man bei Hussein heute, dass sie ernst gemeint ist.
Biermanns Skizze amerikanischer Interessen: »Natürlich geht es […] ums Öl. Noch schlimmer: Das Pentagon brannte schon lange darauf, seine Waffen auszuprobieren. Noch perverser: Die US-Rüstungslobby braucht dringend den Beweis dafür, dass die Billionen Dollars kein rausgeschmissenes Geld waren. Der lukrative Ost-West-Konflikt ist ihnen verdorben, aber die Aktionäre der Kriegsindustrie wollen, dass das Wettrüsten trotzdem weitergeht. Und bei den Präsidentschaftswahlen will kein Kandidat die jüdischen Stimmen verspielen.« Desto besser, sagt Biermann. Ohne diese schmutzigen Interessen würden die USA ihre Kriegsmaschine nicht in Gang gesetzt und Israel verteidigt haben. Saddams mörderischen Eroberungskrieg gegen den Iran sahen die USA zufrieden und belieferten ihn mit Waffen, »Saddams Völkermord an den Kurden war denen eine hässliche Lappalie, und Saddams Terror gegen das eigene Volk war ein totalitäres Kavaliersdelikt. Die USA hatten schon so viele unglückliche faschistische Liebschaften in der Welt.« Das kuwaitische Öl – List des Zufalls, um die »zuverlässig miesen Interessen« zu mobilisieren.
Hilflos-gutwillig, keineswegs unwahr: Palästinenser und Israelis sind die einzigen, deren existenzielle Interessen auf dem Spiel stehen und die »eigentlich Verbündete sein sollten«.
Gegen den irakischen Diktator bietet Biermann sein ganzes gesundes Misstrauen auf. »Der Hass auf die Juden und die Liebe zu den Palästinensern sind nur zwei Seiten derselben falschen Münze, mit der er die Einheit der arabischen Welt unter seiner Führung kaufen will.« Er sieht keinen Todeswunsch wie Enzensberger, sondern das Kalkül, im Tiefbunker trotz bis zu 5 Millionen Toten durchstehen zu können.
»Grade weil er so schön komplex ist, führt uns dieser Krieg modellhaft das Perpetuum mobile unserer Selbstvernichtung vor.« Die Rüstungskonzerne liefern Waffen, zu deren Bekämpfung sie dann noch modernere Waffen liefern müssen. Die armen Länder bezahlen mit Elend und Unwissenheit, die reichen mit dem Surplus, das sie den Armen hätten übertragen müssen. Das Personal, das diese Kriegswirtschaft betreibt, gehört zu Kriegsverbrechern erklärt. »Und die feinsinnigen Rechtsanwälte, die wasserdichten Notare, die hanseatischen Kaufleute und respektablen Geschäftsführer, die alle am Geschäft mit dem Tod verdient haben, verdienen den Tod, genau wie Göring und Krupp und Eichmann.« – Biermann weiß natürlich, dass Krupp ihn 1945 keineswegs erleiden musste, und er weiß erst recht, dass diese seine Worte ganz folgenlos bleiben werden und er sie genau deswegen sagen darf, weil eben jene hanseatischen Kaufleute und respektablen Geschäftsführer gar nicht so sind. So bleibt ihm bei allem Richtigen, trotz aller mitgeschmuggelten Wahrheitskassiber, eben doch nur die eine effektive und effiziente Botschaft: »Ich bin für diesen Krieg«.
12. Februar 1991
Der irakische »Rote Halbmond« soll die Zahl der Kriegstoten mit sechs- bis siebentausend angegeben haben.
Pierre Salinger u. Eric Laurent, Guerre du Golfe, Paris 1990: Laut ZEIT vom 8.2. soll dies die bisher beste Dokumentation der Entstehung des Golfkrieges sein. Die Autoren »nähren