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War der Holocaust ein „Betriebsunfall“ der Moderne oder deren innere Konsequenz? Zygmunt Bauman zeigt in seinem Hauptwerk, wie die Soziologie mit diesem Phänomen methodisch umgehen könnte, mehr noch: was der Holocaust für die Soziologie bedeutet. Keine der traditionellen Lehrmeinungen der Soziologie kann in Zygmunt Baumans Analyse bestehen. Weder diejenige, die den Holocaust als ein Ereignis der jüdischen Geschichte interpretiert, noch diejenige, die den Holocaust als Produkt »barbarischer« Verhaltensweisen betrachtet, die vom zivilisatorischen Fortschritt langsam überwunden werden. Im Gegenteil, der Holocaust selbst muss als Ausdruck der Moderne verstanden werden: in diesem Sinne ein »normaler Vorgang« – immer und überall wiederholbar.
Für die vorliegende vierte Auflage dieses vielbeachteten Werks von Zygmunt Bauman hat Ulrich Bielefeld ein informatives Nachwort verfasst, welches das Gesamtwerk Baumans analysiert und in einen biografischen Zusammenhang stellt.
Zygmunt Bauman (1925–2017), Professor für Soziologie an den Universitäten Warschau, Tel Aviv und Leeds. Veröffentlichungen u. a.: »Legislators and Interpreters« (1987), Freedom« (1988), »Thinking Sociologically« (1990), »Modernity and Ambivalence« (1990; dt. 1992 »Modernität und Ambivalenz«), »Leben in der Flüchtigen Moderne« (Frankfurt, 2007), »Wir Lebenskünstler« (Berlin, 2010), »Die Angst vor den anderen« (Berlin 2016). Zahlreiche Preise und Ehrungen, darunter der Amalfi-Preis für Soziologie.
Zygmunt Bauman
Dialektik der Ordnung
Die Moderne
und der Holocaust
Aus dem Englischen übersetzt von Uwe Ahrens
Mit einem Nachwort von Ulrich Bielefeld
E-Book (ePub)
© CEP Europäische Verlagsanstalt GmbH, Hamburg 2021
Alle Rechte vorbehalten.
Covergestaltung: nach Entwürfen von MetaDesign
Signet: Dorothee Wallner nach Caspar Neher »Europa« (1945)
ePub:
ISBN 978-3-86393-573-3
Auch als gedrucktes Buch erhältlich:
4. Auflage mit einem Nachwort von Ulrich Bielefeld: © CEP Europäische Verlagsanstalt GmbH, Hamburg 2021
Deutsche Erstausgabe © EVA Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 1992
die Originalausgabe erschien unter dem Titel
Modernity and the Holocaust
© 1989 Polity Press, Basil Blackwell, Oxford
Print: ISBN 978-3-86393-098-1
Informationen zu unserem Verlagsprogramm finden Sie im Internet unter www.europaeischeverlagsanstalt.de
INHALT
1 Einführung: Die Soziologie nach dem Holocaust
2 Moderne, Rassismus und Vernichtung I
3 Moderne, Rassismus und Vernichtung II
4 Einzigartigkeit und Normalität des Holocaust
6 Ethik des Gehorsams (Milgram lesen)
7 Vorüberlegungen zu einer soziologischen Theorie der Moral
8 Nachbetrachtung: Rationalität und Scham
Ulrich Bielefeld Zygmunt Bauman – Ein europäischer Intellektueller
Für Janina und alle,
die überlebten, um die Wahrheit zu berichten.
Während ich dies schreibe, sitzen über mir hochzivilisierte Menschen in ihren Flugzeugen und versuchen, mich umzubringen. Nicht daß sie gegen mich als Individuum Feindschaft hegten, oder ich gegen sie. Sie »tun nur ihre Pflicht«, wie es so schön heißt. Ohne Zweifel sind die meisten von ihnen gutherzige, gesetzestreue Zeitgenossen, die in ihrem Privatleben nicht einmal im Traum an einen Mord dächten. Andererseits wird es keinem von ihnen den Schlaf rauben, wenn eine gutplazierte Bombe mich in Stücke reißt. Schließlich dienen alle ihrem Vaterland, das die Autorität hat, sie von allem Bösen freizusprechen.
George Orwell, England your England (1951)
Nichts ist so erschütternd wie Schweigen.
Leo Baeck, Präsident der Reichsvertretung der deutschen Juden, 1933–1943
Es muß unser Interesse sein, daß die große historische und soziale Frage »Wie konnte das passieren?« ihr ganzes Gewicht, ihre grelle Nacktheit, ihren Schrecken behält.
Gershom Scholem in der Begründung seiner Ablehnung der Hinrichtung Eichmanns
Vorwort
Nachdem Janina ihre Erinnerungen an die Zeit im Ghetto und im Untergrund niedergeschrieben hatte, dankte sie mir, ihrem Ehemann, für das Verständnis während ihrer langen Abwesenheit in den zwei Jahren, in denen sie an ihrem Buch schrieb und die sie in eine Welt zurückführte, die »nicht die seine« war. Mir war es gelungen, dem Schrecken und der Unmenschlichkeit zu entkommen, als sie in die fernsten Winkel Europas vordrangen. Und wie viele meiner Zeitgenossen unternahm ich später niemals den Versuch, das Geschehene zu ergründen, sondern überließ es den Alpträumen und den niemals heilenden Wunden jener, die ihre Angehörigen verloren hatten oder ihrer Persönlichkeit beraubt worden waren.
Natürlich wußte ich genug über den Holocaust. Das Bild, das ich davon hatte, entsprach dem vieler anderer aus meiner Generation oder dem der Jüngeren: ein entsetzliches Verbrechen, das die Bösen an den Unschuldigen verübt hatten. Die Welt des Holocaust zerfiel in anomale Mörder und hilflose Opfer und jene, die versucht hatten, den Opfern zu helfen, soweit es eben ging. Nach dieser Vorstellung begingen die Mörder ihre Verbrechen, weil sie Psychopathen waren oder von einer wahnwitzigen Idee besessen; die Opfer wurden hingeschlachtet, weil sie dem übermächtigen, schwer bewaffneten Gegner nichts entgegenzusetzen hatten; und die übrige Welt hatte erschüttert zusehen müssen, bis der Sieg der Alliierten über die Nationalsozialisten dem unsäglichen Leiden ein Ende bereitete. Meine Vorstellung vom Holocaust war wie ein gerahmtes Bild an der Wand, das von seiner Umgebung sauber getrennt ist und mit dem Rest des Mobiliars nichts zu tun hat.
Nach der Lektüre von Janinas Buch wurde mir bewußt, wie gering mein Wissen war –