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Identitätskonzepte in der Literatur


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oder utraquistische Identitätsmodelle abgelehnt, zumindest aber mit Argwohn betrachtet wurden. Die Formulierung von Hildegard Kernmayer, dass „radikalisierte Kontingenz-, Differenz- und Alteritätserfahrungen in der Kultur der zentraleuropäischen Moderne jene Krisen der Identität zeitigen, die mittlerweile als Signatur der Epoche fungieren“ trifft auf die Böhmischen Länder deswegen in besonderen Maße zu.8

      Karl Hans Strobl: Der Fenriswolf

      Karl Hans Strobl (1877–1946) ist heute – wenn überhaupt – noch aus zwei Gründen bekannt. Einerseits als früher Vertreter einer deutschsprachigen literarischen Phantastik (Die Eingebungen des Arphaxat 1904; Eleagabal Kuperus 1910), andererseits wegen seiner späteren Verstrickung in den Nationalsozialismus, dem er als auslandsdeutscher Vorzeigeautor galt.1 Der Beginn seiner schriftstellerischen Laufbahn sah ihn aber – für die österreichische Literatur ungewöhnlich – als engagierten Vertreter einer spezifisch deutschen Moderne unter naturalistischem Vorzeichen. Zu seinen ersten Publikationen zählten Essays über das Kunstprinzip von Arno Holz oder die Integration einer buddhistischen Weltanschauung in die lebensreformerisch geprägte Modernedebatte. Aus dieser Frühzeit stammt auch sein 1903 erschienener autobiographischer Schlüsselroman Der Fenriswolf, in dem Strobl vier Schriftstellerexistenzen skizzierte und damit vier Lebenswege aufzeigte, wie in einer Kleinstadt der böhmisch-mährischen Grenzregion, in der unschwer Strobls Geburtsstadt Iglau/Jihlava zu erkennen ist, ein Leben als moderner Künstler möglich werden konnte. Die einzelnen Schriftsteller konnten inzwischen identifiziert werden, so dass diesen Konzeptionen zu einem gewissen Grad empirische Authentizität zugesprochen werden kann.2

      Ein aus Wien zugezogener Autor fungiert zu Beginn der Handlung als Katalysator für die beiden ortsansässigen Schriftsteller. Zu dritt gründen sie den titelgebenden Dichterbund Fenriswolf – der Name entstammt der nordischen Mythologie – auf dessen Zusammenkünften sie thematische Versatzstücke der Moderne um 1900 in die städtische Gesellschaft tragen. Die Texte von Gerhart Hauptmann, Arno Holz und Jens Peter Jacobsen werden diskutiert, die zeitgenössische Kunst und Musik sowie die Problematik des Eros, aber auch die Frauenemanzipation und die sozialen Konsequenzen des neuen darwinistischen Weltbildes. Dadurch geraten sie rasch in Konflikt mit dem Pragmatismus der Stadtbürger, die noch den Werten und Regeln der vormodernen Gesellschaftsformation verpflichtet sind. Alle drei Autoren werden als Außenseiter behandelt, da sie Identitätskonstruktionen anstreben, die zunächst nicht mit der bürgerlichen Norm korrelieren. Im Verlaufe der Romanhandlung ergeben sich daraus wiederum zunächst drei differente Identitätsstrategien, die ich, um von der allzu kleinteiligen Figurenebene des Regionalromans zu abstrahieren, als Modellautoren anspreche:

      Modellfall 1 beharrt auf der Höherwertigkeit seiner Künstlerexistenz. Er setzt seine moderne Weltanschauung absolut und versteht seinen Weg als Exempel, dem die Bürger folgen sollen. Er wird dadurch vom Außenseiter zum Ausgegrenzten. Trotz eines (einmaligen) Erfolgs in der Fremde bleibt ihm die lokale Anerkennung versagt. Die Romanfigur stirbt schließlich vereinsamt und zeigt so überdeutlich das Scheitern dieses Weges an.

      Modellfall 2 ist die autobiographische Referenzfigur von Strobl. Er tritt nicht offensiv als „Herold einer neuen Zeit“ auf wie Modellfall 1, verkriecht sich aber auch nicht in den Elfenbeinturm, sondern erreicht in individuellen Austauschbeziehungen und kulturellen Verhandlungen eine Koexistenz mit dem Bürgertum. Da er die bürgerlichen Lebensentwürfe akzeptiert, wird ihm zugestanden, seine abweichende Identität als Künstler zu verteidigen, falls er sie in Frage gestellt sieht. Dagegen vertritt Modellautor 1 ein emphatisches Künstlerverständnis, das bereits auf die Avantgarde vorausdeutet. Zwar sind die avantgardistischen Bewegungen – noch dazu in der Frühphase zu Beginn des 20. Jahrhunderts recht heterogen, aber doch in dem Ziel verbunden, gegen das traditionelle Kunstverständnis des Bildungsbürgertums aufzubegehren.3 Diese soziale Schicht fällt aber in Strobls Modellkleinstadt aus, womit der Romantext die realen Verhältnisse regionaler Gesellschaften in den Böhmischen Ländern hyperbolisiert. In Bezug auf Karoline von Günderrode, also in gänzlich anderem Zusammenhang prägte Christa Wolf die Formel von einer „Avantgarde im Hinterland“,4 deren Bildlichkeit aber auch auf die hier beschriebene Situation angewendet werden kann. Während Modellautor 1 sich im ursprünglichen Wortsinn von Avant-garde als Vorhut der Moderne in der Provinz sieht, akzeptiert Modellautor 2 die mangelhaften Voraussetzungen für eine offene Propagierung moderner Ideen und schafft sich neben seiner Künstleridentität auch eine stabile bürgerliche Identität, wodurch er in der Lage ist, die eigenen Ansprüche der Zusammensetzung unterschiedlicher Rezipientengruppen anzupassen.

      Modellfall 3 ist ein aus der Metropole, in diesem Fall Wien, aufgrund einer Versetzung gleichsam von Amtswegen in die Kleinstadt geratener Dichter. Die Genese zum Künstler erfolgte hier vor der regionalen Fixierung und wird als solche nicht angezweifelt. Identitätskonstruktion und Identitätszuschreibung kommen somit zur Deckung. Die unterschiedlichen Voraussetzungen zur Modellierung einer künstlerischen Identität zeigt folgender Gesprächsausschnitt, in dem bereits die Anrede eine vorab vorgenommenen Höherwertung des Wiener Autors impliziert: „Bei Ihnen, Herr Doktor, da is was andres … Sie sind ein Dichter … Aber der Klappenbach [d. i. der gescheiterte Modelfall 1], den haben wir doch all Tag g’sehn … und wissen, was er macht. Woher soll er’s denn haben.“5

      Auf den Wert von interurbanen Migrationsbewegungen für die Literatur und Kultur der Habsburger Monarchie hat zuletzt Alexandra Millner in ihren Studien zu Transdifferenz und Transkulturalität hingewiesen und man könnte auch hinsichtlich Modellfall 3 von einer positiven Integration durch Migration sprechen.6 Allerdings mit zwei Einschränkungen: Erstens macht der Wiener Dichter, der eine Avantgarde im Hinterland grundsätzlich für ein unsinniges Unterfangen hält, keinen Hehl daraus, dass er die Stadt bald möglichst wieder verlassen wird. Sein manchmal exzentrisches Verhalten wird deswegen als vorübergehender Unterhaltungseffekt für die städtische Gesellschaft verbucht, da eine dauerhafte und dann möglicherweise problematische Integration in das ortsansässige Bürgertum von beiden Seiten nicht angestrebt wird. Zweitens liefert die Romanhandlung auch einen Modellfall für eine gescheiterte Migration. Der Finanzkonzipist Neumann entpuppt sich nämlich im Laufe der Handlung ebenfalls als Schriftsteller, der versuchte, in Wien Fuß zu fassen, aber sich zwischen Literatencafés und Salonkultur in der Kulturtopographie der Habsburgermetropole nicht etablieren konnte. Nach der Rückkehr des Erfolglosen in seine Heimatstadt erlauben ihm die Schranken des bürgerlichen Wertekanons nicht einmal mehr den Anschluss an den Fenriswolf, sondern lediglich noch das Verfassen von anzüglichen Sketchen für den als Laientheater getarnten Männerverein, der an der künstlerischen Betätigung vor allem die sich anschließenden Saufgelage schätzt. Im Gegensatz zum tödlichen Ende von Modellautor 1 stirbt er zwar nur den geistigen Tod als verhinderter Schriftsteller, aber die daraus hervorgehende individuelle Tragik wird in zwei längeren monologischen Passagen eindringlich aufgezeigt.

      An dieser Stelle muss die Abstraktionsebene kurz in Richtung regionalliterarischer Kleinteiligkeit verlassen werden. Während Modellautor 1 in Josef Trübswasser (1867–1902), Modellautor 3 in Egid Filek von Wittinghausen (1874–1949) und Modellautor 2 in Strobl selbst ihre kaum verschlüsselten Vorbilder klar erkennen lassen, scheint Modellautor 4 keine reale Grundlage zu besitzen. Aber es gibt eine Gemeinsamkeit zwischen dem Finanzkonzipisten Neumann im Text und Karl Hans Strobl, der kurz vor Abfassung des Romans in derselben Rangstufe in die Gebührenbemessungsstelle der Finanzverwaltung in der Mährischen Landeshauptstadt Brünn eingetreten war. In gewisser Weise deutet Strobl also aus rückschauender Perspektive und räumlicher Trennung vom Handlungsgeschehen die Instabilität seines Identitätskonstruktes an, das durchaus die Gefahr zum Scheitern in sich getragen hätte.7

      Aus Argumentationsgründen kann die narrative Struktur des Romans hier nicht näher dargestellt werden. Ebenfalls nur angedeutet werden kann das erhebliche Potential an Selbstreferentialität des Textes, das u.a. dadurch zum Ausdruck kommt, dass der Modellautor 1 sich auch durch das Abfassen eines investigativ-polemischen Stadtromans endgültig mit der Bevölkerung vor Ort überwirft. Er schreibt also als Figur des Romans von Strobl genau den Schlüsselroman selbst, in dem er als Figur auftritt. Festzuhalten bleibt aber, dass die in Strobls Roman vorgeschlagene Lösungsstrategie für konkurrierende Identitätsentwürfe nicht in einer Verschmelzung zu einer homogenen Identität besteht, sondern in einer akkumulativen