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Heinrich von Kleist


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Auskunft zu erhalten ist, ist in erster Linie der körperliche Schmerz, den er empfindet.

      Die Selbstidentität wird bis zur bereitwilligen Verleugnung aus ihm herausgeprügelt, verbleibt aber dennoch ohne Alternative: Ich kann nichts anderes sein als ich und kann nicht nicht sein und in diesem Sein erleide ich Schmerzen. Statt der cartesianischen res cogitans ist es für Sosias also die res extensa, die von Descartes abgetrennte Körperlichkeit, die letztlich sein Sein vergewissert.

      BIBLIOGRAPHIE

      ADORNO, Theodor W. (1990): Negative Dialektik, Frankfurt am Main, Suhrkamp.

      ALLEMANN, Beda (2005): Heinrich von Kleist. Ein dramaturgisches Modell, Bielefeld, Aisthesis.

      DENKER, Alfred (2011): Unterwegs in Sein und Zeit, Stuttgart, Klett-Cotta.

      DESCARTES, René (1986): Meditationes de prima philosophia (= Meditationen über die Erste Philosophie), Stuttgart, Reclam.

      FICHTE, Johann Gottlieb (1997): Schriften zur Wissenschaftslehre, Frankfurt am Main, Deutscher Klassiker Verlag.

      GRUGGER, Helmut (2010): Dramaturgie des Subjekts bei Heinrich von Kleist, Würzburg, Königshausen & Neumann.

      KANZOG, Klaus (1988): «Vom rechten zum linken Mythos», in: Dirk Grathoff (Hg.): Heinrich von Kleist. Opladen, Westdeutscher Verlag, S. 312-328.

      KLEIST, Heinrich von (1987-1997): Sämtliche Werke und Briefe, Frankfurt am Main, Deutscher Klassiker Verlag.

      KLOTZ, Volker (1996): Radikaldramatik, Bielefeld, Aisthesis.

      PICO DELLA MIRANDOLA, Giovanni (1990): De hominis dignitate (= Über die Würde des Menschen), Hamburg, Meiner.

      RECKWITZ, Andreas (2006): Das hybride Subjekt, Weilerswist, Velbrück.

      SCHMITT, Arbogast (2003): «Subjektivität und Evolution – Kritische Anmerkungen zu einer kognitionspsychologischen Erklärung von Subjektivität», in: Paul Geyer / Monika Schmitz-Emans (Hg.): Proteus im Spiegel, Würzburg, Königshausen & Neumann, S. 159-189.

      SCHMITT, Arbogast (2008): Die Moderne und Platon, Stuttgart/Weimar, Metzler.

      TIECK, Ludwig (1826): «Vorrede», in ders. (Hg.): Heinrich von Kleists gesammelte Schriften, Berlin, Reimer, S. 3-66.

       Reinhold Münster

      Universität Bamberg

      Wie der Mensch das Glück erlangen könne, dieser Frage stellte sich der junge Heinrich von Kleist während seiner Militärzeit in einer Reflexion mit dem Titel Aufsatz, den sichern Weg des Glücks zu finden und ungestört – auch unter den größten Drangsalen des Lebens – ihn zu genießen! (Kleist, 1994, II: 301-315). Den Essay widmete er dem melancholischen Freund August Otto Rühle von Lilienstern. Inhaltlich bewegte sich Kleist auf der Ebene der britischen Moralphilosophie, den Lehren der römischen Stoa und der Nikomachischen Ethik des Aristoteles. Das Ideal sei der tugendhafte Weise, der den goldenen Mittelweg zur Harmonie des Lebens finde. Unterschieden wurde in die innere Glückseligkeit und das Glück der Fortuna. Um sein Glück zu erkennen, müsse der Mensch einsehen, dass ein gleiches Gesetz über der moralischen und der physikalischen Welt walte (Kleist, 1994, II: 308). Junge Menschen wie Rühle und Kleist könnten dieses jedoch nicht verstehen, sie wankten auf regellosen Bahnen umher, die Gärung der jugendlichen Kräfte verhindere die Einsicht in Liebe und Wohlwollen. Die Einsicht erweise sich als schwierig, denn es schwebe, so Kleists Erläuterung, ein «ewiger Schleier» über den Geheimnissen der Welt (Kleist, 1994, II: 310). Kleist erklärte:

      Irgendwo in der Schöpfung muss es sich gründen, der Inbegriff aller Dinge muss die Ursachen und die Bestandteile des Glückes enthalten, mein Freund, denn die Gottheit wird die Sehnsucht nach Glück nicht täuschen, die sie selbst unauslöschlich in unsrer Seele erweckt hat... (Kleist, 1994, II: 301).

      Kleist mahnte den Freund, auf diese «geheime göttliche Kraft» zu vertrauen (Kleist, 1994, II: 306).

      Mit dem kleinen Essay stellte sich Kleist in die Traditionen der Aufklärung, die zwar zu seiner Zeit auf der einen Seite eine rationalistische Verengung erfahren hatte, auf der anderen aber in eine erweiterte Aufklärung und in frühromantische Theorien übergegangen war (Münster, 1993). Er bezog sich auf das zentrale Thema der Zeit, auf die Frage nach dem ganzen Menschen. Das einfache Modell der Anthropologie, das Kleist in dem Text entwarf, bestand aus drei Annahmen: Es gebe ein ewiges, göttliches Gesetz, ein unaufhebbarer Schleier liege über der Erkenntnis des Lebens, die Erfahrung des Glücks und die Aufdeckung der Geheimnisse des Lebens erfolge erst im Paradies. Wie lässt sich für Kleist das Glück des ganzen, aber in sich zerrissenen Menschen erlangen? Worin besteht der Sinn des Lebens und des Glücks? Ist dieses überhaupt auf Erden oder erst im ewigen Frieden erreichbar? (Földenyi, 1997).

      Die Forschungen zu Kleist betonten häufig die Dimensionen des konkreten Daseins in Kleists Werk, seine persönliche Problematik mit psychischen Störungen, mit der, wie Kleist an die Schwester Ulrike (5. Februar 1801) schrieb, zerrissenen Seele, die wie die Sprache des Menschen in Bruchstücke zersplittert sei (Kleist, 1994, II: 626). Grundlage der Interpretation wurden damit Äußerungen zu den Unsicherheiten des persönlichen Lebens, der fehlenden Geborgenheit und des Bewusstseins von Kontingenz und Zufall in den Texten Kleists.

      Berühmt wurden die Aufzeichnungen aus dem Jahre 1801. In diesen inszenierte Kleist unterschiedliche Todesarten, häufig in tragikomischer Art: Sterben an der Kontingenz eines Eselsgeschreis, sterben im Sturm auf dem Rhein. Im Brief an Karoline von Schlieben (Paris, 18. Juli 1801) berichtete Kleist in lebendiger Rhetorik:

      ... als mit einemmal ein Esel hinter uns ein so abscheuliches Geschrei erhob, dass wir wirklich gerade so vernünftig sein mussten, wie wir sind, um dabei nicht scheu zu werden. Die armen Pferde aber, die das Unglück haben keine Vernunft zu besitzen, hoben sich in die Höhe und gingen spornstreichs mit uns in vollem Karriere über das Steinpflaster der Stadt durch. Ich griff nach dem Zügel, aber die hingen ihnen, aufgelöset, über der Brust, und ehe ich Zeit hatte, an die Größe der Gefahr zu denken, schlug schon der Wagen mit uns um, und wir stürzten – Und an einem Eselsgeschrei hing ein Menschenleben? Und wenn es nun in dieser Minute geschlossen gewesen wäre, darum also hätte ich gelebt? Darum? Das hätte der Himmel mit diesem dunkeln, rätselhaften, irdischen Leben gewollt, und weiter nichts –? (Kleist, 1994, II: 666).

      Der scheinbare Realismus löst sich schnell im intertextuellen Blick auf. Das Vorbild findet sich in Platons Dialog Phaidros, im Bild der Seele als Wagenlenker. Kleist drehte das Bild um 180 Grad: Die Vernunft halte keine Zügel in der Hand, die Pferde seien beide unvernünftig, jegliches Telos fehle. Auch ein Richtungswechsel findet statt: Nicht ins Elysium gehe die Fahrt, sondern in den Abgrund.

      Kurze Zeit später im Brief an Wilhelmine von Zenge (21. Juli 1801) wurde die literarische Inszenierung noch deutlicher. Er, so schrieb Kleist recht lebhaft und anschaulich, habe sich mit dem Fährschiff mitten auf dem Rhein befunden, als ein plötzlich einsetzender Sturm das Boot in den Abgrund zu reißen drohte. Todesangst habe ihn ergriffen. Diese Angst wandelte er sofort in eine trockene Reflexion über den Sinn des Lebens um. Der Bezug zum Motiv des Schiffbruchs (Odysseus, Lukrez, Voltaire, Bibel), vielleicht sogar zum Gedicht Zu Bacharach am Rheine, das Clemens Brentano im Jahr