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Grenze als Erfahrung und Diskurs


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Unberechenbarkeit sich der Exilant abzufinden hat.

      Dieser Flucht über die Grenze lässt sich jedoch auch Gutes abgewinnen, wie auch das Gedicht 1940 zeigt, das Brecht kurz nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in Dänemark schrieb: „Auf der Flucht vor meinen Landsleuten / Bin ich nun nach Finnland gelangt. Freunde / Die ich gestern nicht kannte, stellten ein paar Betten / In saubere Zimmer“.1 Die Flucht schafft Abhängigkeit, macht aus dem Exilanten einen Schutzbedürftigen, doch dieses Ausgesetztsein bietet gleichzeitig auch neue Möglichkeiten menschlichen Kontakts. Die – hier finnischen – Freunde gibt es bereits, doch erst die Not der Flucht fördert ihre Freundschaft zu Tage. Sie eröffnet eine Topografie menschlicher Wohlgesinnung und Hilfsbereitschaft weit über die eigenen Landesgrenzen hinweg, unbekannte Orte erweisen sich als schutzbringend, und die zur Verfügung gestellten sauberen Zimmer ergeben eine Art „underground railroad“ von Stadt zu Stadt, von Land zu Land.

      Allmählich entsteht eine geografische Karte des Exils, die Fluchtwege verzeichnet, Hilfsnetzwerke markiert, und auf der das scharfe Auge des Fliehenden auch die letztmöglichen und unwahrscheinlichsten Schlupflöcher erahnt: „Neugierig / Betrachte ich die Landkarte des Erdteils. Hoch oben in / Lappland / Nach dem Nördlichen Eismeer zu / Sehe ich noch eine kleine Tür“.2 Die Verlässlichkeit dieser Karte beruht nicht zuletzt auf die dem Exilanten zur Verfügung stehenden Informationen: Über Friedensbeteuerungen, Kriegsvorbereitungen und -erklärungen, Gebietsgewinne oder -verluste, Kapitulationen und Besatzungen. Brecht trug auf seiner Flucht ein Radiogerät mit sich, das ihm erlaubte, mit Nazideutschland in Funkkontakt zu bleiben und so nicht zuletzt die eigenen Fluchtentscheidungen auf die Berichterstattung abzustimmen. Die Stimme des Rundfunksprechers begleitet ihn, und die Bedeutung seiner Worte – ironischerweise die Worte des Feindes – erleichtert das Gewicht des mitzutragenden Radios. Brecht widmet dem Gerät das vierzeilige Gedicht Auf den kleinen Radioapparat: „Du kleiner Kasten, den ich flüchtend trug / Daß seine Lampen mir auch nicht zerbrächen / Besorgt von Haus zum Schiff, vom Schiff zum Zug / Daß meine Feinde weiter zu mir sprächen“.3

      Was braucht der Flüchtling, dem das Überschreiten der Grenze – vielleicht sogar Grenzen – bevorsteht? Die Exilgedichte Brechts ergeben insgesamt eine Art Inventur: mag der „Backstein“ in seiner ganzen Konkretheit nur metaphorisch zu verstehen sein, das Radiogerät trug Brecht tatsächlich mit sich. In seinem Gedicht Die Pfeifen, in dem er festhält, dass er „die Bücher, nach der Grenze hetzend / den Freunden ließ“,4 formuliert Brecht eine Art Fluchtmaxime, die er aber mit dem Mitbringen seines Rauchzeugs sofort verletzt: „Des Flüchtlings dritte Regel: Habe nichts!“5 Die ersten zwei Regeln lassen sich nur erraten, doch Leichtigkeit ist auf der Flucht das Gebot der Stunde. „Habe nichts“ fungiert weiter auch als Kontrastposition zum vorexilischen Leben, das sich nicht zuletzt auch in den Besitztümern – im Wagen, Haus und Garten – manifestierte. Nun wird im Exil das Nichthaben zum kategorischen Imperativ erhoben.

      So wie die Wahrheit, die sich in den Dingen zeigt, ist auch die Flucht über die Grenze konkret. In Brechts Flüchtlingsgespräche heißt es zynisch, der Pass sei „der edelste Teil des Menschen“, denn er werde anerkannt „wenn er gut ist, während ein Mensch noch so gut sein kann und doch nicht anerkannt wird“.6 Diese wertschöpfende Anerkennung trifft natürlich auch auf Devisen zu, weshalb zu des Flüchtlings drei Regeln neben der Beschaffung von gültigen Papieren wohl auch das Mitbringen von Geld zählen mag. In seinem Reisejournal erinnert sich Brecht an seine in einem Moskauer Krankenhaus gestorbene Mitarbeiterin und Geliebte Margarethe Steffin, kurz Grete, die in ihrem Hang zu schönen Dingen immer wieder gegen die Brecht’sche Flüchtlingsmaxime verstößt. Doch auch sie, so erfährt er erst später, hat sich die Grenze – als Erfahrungsbereich, als Praxis – zu eigen gemacht, hat von den zurückliegenden Grenzüberschreitungen gelernt und will auf den nächsten Grenzgang vorbereitet sein.

      Ich sehe häufig Grete mit ihren Sachen, die sie immer wieder in die Koffer packte. Das seidene Tuch mit dem Porträt, von Cas gemalt; die hölzernen und elfenbeinernen kleinen Elefanten aus den verschiedenen Städten, in denen ich war; den chinesischen Schlafmantel; die Manuskripte; das Leninfoto; die Wörterbücher. Sie verstand schöne Dinge, wie sie sprachliche Schönheiten verstand. Als ich sie in Moskau aus dem Hotel in die Klinik brachte, lag sie mit dem Sauerstoffkissen; aber sie regte sich auf, daß ich ihren braunen finnischen Kapuzenmantel mitnähme, und war erst ruhig, als ich ihn ihr zeigte. In diesem Mantel, erfuhr ich später, hatte sie 15 englische Pfund, seit Jahren gespart und versteckt, über die Grenzen geschmuggelt: das sollte ihr Freiheit verleihen. Ich liebte sie sehr, als ich das erfuhr.7

      Für den Exilanten ist die Grenze eine existentielle Bedrohung, doch die Bemühungen, sie zu überwinden und den ihr innewohnenden Gefahren zu entkommen, machen auch schlau. Gretes Mantel versinnbildlicht die praktische Klugheit, die ein routinierter Grenzüberschreitender – der Schmuggler – an den Tag legt, um die Grenze zu überlisten, so wie ein Schriftsteller beim geschickten Täuschen der Zensurbehörde, braucht er für das Schreiben der Wahrheit doch die List sie zu verbreiten. Brecht mag in Gretes Sorgen um ihren Mantel auch eine Parallele zu seiner 1939 – auch in Moskau – erschienenen Kurzgeschichte Der Mantel des Nolaners gesehen haben,8 in der sich Giordano Bruno trotz Einkerkerung und bevorstehender Todesstrafe um die Rückgabe seines Mantels bemüht, den er von einer Schneiderin hatte anfertigen lassen, doch für den er zu bezahlen nicht mehr in der Lage ist. Wie in der Geschichte Brunos zeigt sich auch bei Grete die wahre Größe in der Tat, im konkreten Handeln und im Verantwortungsbewusstsein über das eigene Schicksal hinweg. Gretes über Jahre herangesammelte und sorgfältig im Mantelsaum eingenähte Pfund deuten zudem auf ihre handfeste, pragmatische Einschätzung der bevorstehenden Bewährungsprobe im Exil. Auch hier ist die Wahrheit konkret.

      IV. Grenzüberschreitende Briefe

      Wahr ist, dass der Flüchtende Geld braucht und sich nun in der Fremde neue Einkommensquellen schaffen muss. Dementsprechend steht die von Exilanten geführte Korrespondenz in nicht unerheblichem Maße im Zeichen der finanziellen Not und zeigt die Entstehung und Pflege eines regen, länderübergreifenden schriftlichen Verkehrs, in dessen Mittelpunkt immer wieder die Erkundung potentieller Arbeitsmöglichkeiten rückt. Das Grenzschicksal des Exils wird auch hier erwartungsgemäß zum Thema, wie Brechts Briefwechsel im Frühjahr 1939 mit dem schwedischen Schriftsteller und Übersetzer Henry Peter Matthis zeigt. Der seit 1933 im dänischen Exil lebende Brecht, den Matthis zu einer Vortragsreise durch Schweden eingeladen hat, weist auf das Faktum Grenze hin – dessen Aktualität aufgrund drohender Kriegsgefahr ständig wächst – und erhofft sich von Matthis die benötigte Hilfe bei der behördlichen Abhandlung seiner Überquerung der dänisch-schwedischen Staatsgrenze. Datiert 4. März 1939 schreibt er aus Svendborg, unter seinem „dänischen Dach“, an Matthis:

      Wenn wir auch den Zeitpunkt für den Beginn der Vorträge im Augenblick noch nicht bestimmen wollen, so wäre es doch richtig, meiner Frau und mir die Möglichkeit, die Grenze zu übertreten, sogleich zu verschaffen, so daß dann nicht daran alles scheitern kann. Wie ich höre, benötigen wir dazu Grenzempfehlungen, am besten von im öffentlichen Leben stehenden Persönlichkeiten. Ich glaube, wir bekämen die Erlaubnis, wenn Sie dem schwedischen Konsulat in Kopenhagen mitteilen könnten, welche Leute mich in Schweden haben wollen.1

      Mag ihm an der Vortragsreise viel gelegen sein, Brechts Hauptanliegen ist ohne Zweifel die gesicherte Fahrt nach Schweden, die Matthis mittels seiner „Grenzempfehlungen“ in die Wege leiten soll. Auch nach sechsjährigem Aufenthalt im benachbarten Dänemark und trotz seines Rufs in Schweden ist Brecht auf die Hilfe Wohlgesinnter angewiesen.

      In seinem Brief bezieht er sich auf das Vorhaben prominenter Schweden, ein „Nationalkomitee Freies Deutschland“ zu gründen, das jedoch am Beharren der schwedischen Regierung auf ihrer politischen Neutralität im Zweiten Weltkrieg scheitern sollte. Brecht betont das grenzübersteigende Potenzial einer solchen Hilfsorganisation in einer Zeit, die von immer größer werdenden Einschränkungen der Bewegungs- und Gedankenfreiheit gekennzeichnet ist: „Darf ich Ihnen sagen, daß ich Ihre und Herrn Brantings Idee, dieses Komitee zu gründen, jetzt in dieser Zeit, wo jedem freien geistigen Austausch immer mehr ganz mittelalterliche Schranken gesetzt werden, außerordentlich finde?“2 Diesen unzeitgemäßen Einschränkungen, dem Aufwerfen