Gustav Meyrink

Das grüne Gesicht


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Dinge der Welt um so schneller sich in wesenlosem Schein schemenhafter Unwirklichkeit auflösen, je krasser sie sind.

       Er betrat eine der beiden schmalen Seitengäßchen, die links und rechts das Tingeltangel umgaben, und schritt gleich

       darauf auf einem Laubengang aus Glas vorüber, der ihm merkwürdig bekannt vorkam.

       Als er um die Ecke bog, stand er vor dem mit Rollblech verschlossenen Laden Chidher Grüns; das Lokal, das er

       soeben verlassen, war nur der rückwärtige Teil des sonderbaren, turmähnlichen Hauses in der Jodenbreetstraat mit

       dem flachen Dach, das schon nachmittags seine Aufmerksamkeit erregt hatte.

       Er blickte empor zu den beiden trüben Fenstern, – auch hier wieder der befremdende Eindruck von Unwirklichkeit:

       Das ganze Gebäude glich täuschend in der Dunkelheit einem ungeheuern menschlichen Schädel, der mit den Zähnen

       des Oberkiefers auf dem Pflaster ruhte.

       Unwillkürlich verglich er auf dem Wege zu seiner Wohnung das phantastische Durcheinander im Innern dieses

       Schädels aus Mauerwerk mit den vielerlei krausen Gedanken in dem Kopf eines Menschen, und Mutmaßungen, als

       könnten hinter der finstern steinernen Stirne da oben Rätsel schlafen, von denen Amsterdam sich nichts träumen ließ,

       verdichten sich in seiner Brust zu einem beklemmenden Vorgefühl gefährlicher, an der Schwelle des Geschickes

       lauernder Ereignisse.

       War die Vision des Gesichtes aus grünem Erz im Laden des Vexiersalons wirklich nur ein Traum gewesen?

       überlegte er.

       Die regungslose Gestalt des alten Juden vor dem Pulte nahm plötzlich in seiner Erinnerung alle Merkmale einer

       schattenhaften Luftspiegelung an, – schien weit eher einem Traum entsprungen zu sein als das erzene Gesicht.

       Hatte der Mann tatsächlich mit den Füßen auf dem Boden gestanden? Je schärfer er sich das Bild zu

       vergegenwärtigen suchte, um so mehr zweifelte er, daß es der Fall gewesen war.

       Er wußte mit einemmal haargenau, daß er die Schubladen des Pultes durch den Kaftan hindurch deutlich gesehen

       hatte.

       Ein jähes Mißtrauen gegenüber seinen Sinnen und der anscheinend so fest begründeten Stofflichkeit der Außenwelt

       flammte, tief aus der Seele hervorbrechend wie ein blitzartiges Licht, einen Augenblick in ihm auf, und gleichsam als

       Schlüssel zu den Geheimnissen derartiger unerklärlicher Vorgänge fiel ihm ein, was er schon als Kind gelernt: daß das

       Licht gewisser, unfaßbar weit entfernter Sterne in der Milchstraße am Himmel siebzigtausend Jahre braucht, um zur

       Erde zu gelangen, und man daher (gäbe es so scharfe Fernrohre, um jene Weltenkörper dicht vors Auge zu rücken)

       dort oben nur Begebenheiten schauen könnte, die seit siebzigtausend Jahren bereits in das Reich der Vergangenheit

       versunken sind. Es mußte also – ein Gedanke von erschütternder Furchtbarkeit! – in der unendlichen Ausdehnung des

       Weltenraumes jedes Geschehen, das einmal geboren worden, ewig als Bild, aufbewahrt im Licht, bestehenbleiben. "So

       gibt es also – wenn auch außerhalb des Bereiches menschlicher Macht – eine Möglichkeit", schloß er, "Vergangenes

       zurückzubringen?"

       Als hinge die Erscheinung des alten Juden vor dem Pulte mit diesem Gesetze einer gespenstischen Wiederkunft

       irgendwie zusammen, gewann sie plötzlich für ihn ein schreckhaftes Leben.

       Er fühlte das Phantom gleichsam in Armesnähe neben sich hergehen, unsichtbar für die äußern Augen und doch weit

       gegenwärtiger als jener leuchtende, ferne Stern dort oben in der Milchstraße, den alle Menschen sehen konnten Nacht

       für Nacht und der trotzdem schon seit siebzigtausend Jahren am Himmel erloschen sein konnte – – –

       Vor seiner Wohnung, einem engen, zweifenstrigen altertümlichen Hause mit einem Vorgärtchen, blieb er stehen und

       sperrte das schwere eichene Tor auf.

       So deutlich war seine Empfindung geworden, als ginge jemand neben ihm, daß er sich unwillkürlich umblickte, bevor

       er eintrat.

       Er klomm die kaum brustbreite Treppe empor, die, wie fast in allen holländischen Häusern, steil wie eine Feuerleiter

       in einer ununterbrochenen Flucht von ebener Erde bis hinauf unter das Dach lief, und ging in sein Schlafzimmer.

       Ein Raum, schmal und langgezogen, die Decke getäfelt, nur ein Tisch und vier Stühle in der Mitte; alles andere:

       Schränke, Kommoden, Waschtisch, sogar das Bett, eingebaut in die mit gelber Seide bespannten Wände.

       Er nahm ein Bad und legte sich schlafen.

       Beim Auslöschen des Lichtes fiel sein Blick auf den Tisch, und er sah dort einen würfelförmigen grünen Karton

       stehen.

       "Aha, das Delphische Orakel aus Papiermaché, das man mir aus dem Vexiersalon geschickt hat", legte er sich mit

       bereits entschwindendem Bewußtsein zurecht.

       Eine Weile später fuhr er halb aus dem Schlummer auf; er glaubte ein merkwürdiges Geräusch gehört zu haben, als

       schlüge eine Hand mit kleinen Stäben auf den Fußboden.

       Es mußte jemand im Zimmer sein!

       Aber er hatte doch die Haustür fest zugeschlossen! Er erinnerte sich genau.

       Vorsichtig tastete er an der Wand hin nach dem Drücker des elektrischen Lichtes, da berührte ihn etwas, das sich

       anfühlte wie ein kleines Brett, mit leisem, schnellen Schlag am Arm. Gleichzeitig hörte er ein Klappern in der Mauer,

       und ein leichter Gegenstand rollte über sein Gesicht.

       Im nächsten Augenblick blendete ihn die aufleuchtende Glühbirne.

       Wieder ertönte das Geräusch der klopfenden Stäbe.

       Es kam aus dem Innern der grünen Schachtel auf dem Tisch.

       "Der Mechanismus in dem albernen pappendeckelnen Totenkopf wird losgegangen sein; das ist alles", brummte

       Hauberrisser ärgerlich. Dann griff er nach dem Ding, das ihm übers Gesicht gekollert war und auf seiner Brust lag.

       Es war eine zusammengebundene Rolle Schreibpapier, mit engen, verwischten Schriftzeichen bedeckt, wie er mit

       halbwachen Augen erkannte.

       Er warf sie aus dem Bett hinaus, drehte das Licht ab und schlief wieder ein.

       "Sie muß von irgendwo herabgefallen sein, oder bin ich an ein Klappfach in der Wand angekommen, in dem sie

       gelegen hat", raffte er seine letzten klaren Gedanken zusammen, dann formten sie sich immer dichter und dichter zu

       konfusen Phantasiegebilden, und schließlich stand als Traumgestalt, wahllos ausgebaut aus den Eindrücken des Tages,

       ein Zulukaffer vor ihm, auf dem Kopf eine rotwollene Gockelhaube, die Füße geschmückt mit grünen Froschzehen,

       hielt in der Hand die Visitenkarte des Grafen Ciechonski, und das schädelhafte Haus in der Jodenbreestraat stand

       grinsend dabei und kniff zwinkernd bald das eine, bald das andere Auge zu.

       Das ferne bange Heulen einer Schiffssirene im Hafen war das letzte Überbleibsel aus der Sinnenwelt, das

       Hauberrisser noch eine kleine Strecke hinabbegleitete in die Abgründe des Tiefschlafs.

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