Gustav Schwab

Die schönsten Sagen des klassischen Altertums - Zweiter Teil


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war, fuhr sie fort: »Siehe, Vater, hier

       steht sie dir zu Gehorsam da, laß auch mich zuvor ein Wort an dich richten: sage mir ohne

       Winkelzüge, willst du meine und deine Tochter umbringen?« Lange stand der Feldherr lautlos da,

       endlich rief er in Verzweiflung aus: »O mein Schicksal, mein böser Geist! Aufgedeckt ist mein

       Geheimnis, alles ist verloren!« »So höre mich denn«, sprach Klytämnestra weiter; »ich will mein

       ganzes Herz vor dir ausschütten. Mit einem Verbrechen hat unsre Ehe begonnen; du hast mich

       gewaltsam entführt, hast meinen früheren Gatten erschlagen, mein Kind mir von der Brust

       genommen und getötet. Schon zogen meine Brüder Kastor und Pollux auf ihren Rossen mit

       Heeresmacht gegen dich heran. Mein alter Vater Tyndareos war es, der dich, den Flehenden, rettete,

       und so wurdest du aufs neue mein Gemahl. Du selbst wirst es bezeugen, daß ich tadellos in diesem

       Ehebunde war, deine Wonne im Hause und dein Stolz draußen. Drei Mädchen und diesen Sohn habe

       ich dir geboren, und nun willst du des ältesten Kindes mich berauben; und fragt man dich, warum, so

       antwortest du: damit dem Menelaos seine Ehebrecherin wieder zuteil werde! O zwinge mich nicht,

       bei den Göttern, schlecht gegen dich zu werden, und sei nicht schlecht gegen mich! Du willst deine

       Tochter opfern? Welch Gebet willst du dabei sprechen, was willst du dir beim Tochtermord erflehen?

       Eine unglückselige Rückkehr, so wie du jetzt schmählich von Hause wegziehst? Oder soll ich etwa

       Segen für dich erbitten? Müßte ich doch die Götter selbst zu Mördern machen, wenn ich es täte!

       Warum soll es denn dein eigenes Kind sein, das als Opfer fällt? Warum sprichst du nicht zu den

       Griechen: ›Wenn ihr vor Troja schiffen wollet, so werfet das Los darüber, wessen Tochter sterben

       soll.‹ Nun soll ich, deine treue Gattin, mein Kind verlieren, während er, dessen Sache ausgefochten

       wird, Menelaos, seiner Tochter Hermione sich ohne Sorgen erfreuen darf, während seine treulose

       Gattin dieses Kind in Spartas Pflege geborgen weiß! Antworte, ob ich ein einziges ungerechtes Wort

       gesagt habe. Ward aber von mir die Wahrheit gesprochen, o so töte doch deine und meine Tochter

       nicht; tu es nicht, besinne dich!«

       Jetzt warf sich auch Iphigenia zu den Füßen ihres Vaters und sprach mit erstickter Stimme: »Besäße

       ich den Zaubermund des Orpheus, o Vater, daß ich Felsen lenken könnte, so wollte ich mich mit

       beredten Worten an dein Mitleid wenden. Jetzt aber sind alle meine Künste nur Tränen, und anstatt

       des Ölzweigs umflechte ich dein Knie mit meinem Leibe. Verdirb mich nicht frühzeitig, Vater; lieblich

       ist das Licht zu schauen, nötige mich nicht, das zu sehen, was die Nacht verbirgt! Gedenke deiner

       Liebkosungen, mit welchen du mich als Kind auf deinem Vaterschoße gewiegt hast! Noch weiß ich

       alle deine Reden: wie du hofftest, mich in eines edlen Mannes Wohnung einzuführen, mich in

       Wohlergehen und Blüte zu schauen, wenn du heimgekehrt wärest. Du aber hast das alles vergessen;

       du willst mich töten! O tu es nicht, bei dieser Mutter beschwöre ich dich, die mich mit Schmerzen

       geboren hat und jetzt noch größeren Schmerz um mich empfindet! Was gehen mich Helena und Paris

       an? Warum muß ich sterben, weil er nach Griechenland gekommen ist? O blicke mich an; gönne mir

       dein Auge, deinen Kuß, daß ich doch sterbend noch ein Andenken von dir empfange, wenn dich mein

       Wort nicht mehr zu rühren vermag! Sieh deinen Knaben, meinen Bruder, an, Vater; schweigend fleht

       er für mich. Er ist noch ein Küchlein; ich aber bin herangereift! So laß dich doch erweichen und

       erbarme dich meiner. Das Licht zu schauen ist für Sterbliche doch das Holdseligste! Elend leben ist

       besser als der allerschönste Tod.«

       Aber Agamemnons Entschluß war gefaßt, er stand unerbittlich wie ein Fels und sprach: »Wo ich

       Mitleid fühlen darf, da fühle ich Mitleid; denn ich liebe meine Kinder, ich wäre ja sonst ein Rasender.

       Mit schwerem Herzen, o Gemahlin, führe ich das Schreckliche aus, aber ich muß. Ihr sehet ja, welch

       ein Schiffsheer mich umringt, wie viele Fürsten im Kriegspanzer mich umstehen; diese alle finden die

       Fahrt nach Troja nicht, Troja wird nicht erobert, wenn ich dich nicht opfere, Kind, nach dem

       Ausspruche des Sehers. Diese Helden alle wollen den Entführungen der Griechenfrauen ein Ziel

       stecken; sie sind es fest entschlossen; und bekämpft' ich nun diesen Götterspruch, so mordeten sie

       euch und mich. Hier hat meine Macht eine Grenze; nicht meinem Bruder Menelaos, sondern ganz

       Griechenland weiche ich.«

      Kapitel 2

      Ohne weitere Bitten abzuwarten, entfernte sich der König und ließ die jammernden Frauen allein in

       seinem Zelte. Da hallte plötzlich Waffenlärm vor diesem. »Es ist Achill«, rief Klytämnestra freudig.

       Vergebens suchte sich Iphigenia in tiefer Beschämung vor dem erheuchelten Bräutigam zu

       verbergen. Der Sohn des Peleus trat, von einigen Bewaffneten begleitet, hastig in das Zelt:

       »Unglückliche Tochter Ledas«, rief er, »das ganze Lager ist im Aufruhr und verlangt den Tod deiner

       Tochter; ich selbst, der mich dem Geschrei widersetzte, wäre fast gesteiniget worden.« »Und deine

       Myrmidonen?« fragte Klytämnestra mit stockendem Atem. »Die empörten sich zuerst«, fuhr Achill

       fort, »und schalten mich einen liebeskranken Schwätzer. Mit diesem treuen Häuflein hier komme ich,

       euch gegen den anrückenden Odysseus zu verteidigen. Tochter, klammere dich an deine Mutter;

       mein Leib soll euch decken, ich will sehen, ob sie es wagen, den Sohn der Göttin anzugreifen, von

       dessen Leben das Schicksal Trojas abhängt.« Diese letzten Worte, die einen Schimmer von Hoffnung

       enthielten, gaben der Mutter den Atem wieder.

       Jetzt aber machte sich Iphigenia aus ihren Armen los, richtete ihr Haupt auf und stellte sich mit

       entschlossenen Schritten vor die Königin und den Fürsten: »Höret meine Reden an!« sprach sie mit

       einer Stimme, die alles Zittern verloren hatte, »vergebens, liebe Mutter, zürnst du deinem Gatten; er

       kann sich nicht gegen das Notwendige stemmen. Alles Lob verdient der Eifer dieses Fremdlings, aber

       er wird es büßen müssen, und du wirst gelästert werden. Höret deswegen den Entschluß, den mir die

       Überlegung eingegeben hat. Ich habe beschlossen zu sterben; ich verbanne jede niedrige Regung aus

       meiner freien Brust und will es vollenden. Auf mir ruht jetzt jedes Auge des herrlichen Griechenlands,

       auf mir die Fahrt der Flotte und der Fall Trojas, auf mir die Ehre der griechischen Frauen. Alles dieses

       werde ich mit meinem Tode schirmen; mit Ruhm wird sich mein Name bedecken; die Befreierin

       Griechenlands werde ich heißen. Soll ich, eine Sterbliche, der Göttin Artemis in den Weg treten, weil