Gustav Schwab

Die schönsten Sagen des klassischen Altertums - Zweiter Teil


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auf ihre Gespielin führen, als Zeus, für seine Tochter bangend, den Schild aus Ziegenfell, die Ägis,

       dieser vorhielt. Dadurch erschreckt, blickte Pallas furchtsam auf und wurde in dem Augenblicke von

       Athene tödlich verwundet. Tiefe Trauer bemächtigte sich der Göttin, und sie ließ zum dauernden

       Andenken ein recht ähnliches Bild ihrer geliebten Gespielin Pallas verfertigen, legte demselben einen

       Brustharnisch von dem gleichen Ziegenfelle, wie der Schild war, um, der nun auch Ägispanzer oder

       Ägide hieß, stellte das Bild neben die Bildsäule des Zeus und hielt es hoch in Ehren. Sie selbst aber

       nannte sich seitdem Pallas Athene. Dieses Palladion nun warf, mit Einwilligung seiner Tochter, Zeus

       vom Himmel in die Gegend der Burg Ilios herunter, zum Zeichen, daß Burg und Stadt unter seinem

       und seiner Tochter Schutze stehe.

       Der Sohn des Königs Ilos und der Eurydike war Laomedon, ein eigenmächtiger und gewalttätiger

       Mann, welcher Götter und Menschen betrog. Dieser dachte darauf, den offenen Flecken Troja, der

       noch nicht befestigt war wie die Burg, mit einer Mauer zu umgeben und so zu einer förmlichen Stadt

       zu machen. Damals irrten die Götter Apollo und Poseidon, die sich gegen Zeus, den Göttervater,

       empört hatten und aus dem Himmel gestoßen waren, heimatlos auf der Erde umher. Es war der

       Wille des Zeus, daß sie dem Könige Laomedon an der Mauer Trojas bauen helfen sollten, damit seine

       und Athenes Lieblingsstadt der Zerstörung trotzende Mauern hätte. So führte sie denn ihr Geschick

       in die Nähe von Ilios, als eben mit dem Bau der Stadtmauern begonnen wurde. Die Götter machten

       dem Könige Laomedon ihre Anträge, und da sie auf der Erde nicht bloß müßig gehen durften noch

       ohne Arbeit mit Ambrosia gespeist wurden, so bedingten sie sich einen Lohn aus, der ihnen auch

       versprochen ward, und fingen nun an zu frönen. Poseidon half unmittelbar bei dem Bau; unter seiner

       Leitung stieg die Ringmauer breit und schön, eine undurchdringliche Schutzwehr der Stadt, in die

       Höhe. Phöbos Apollo weidete inzwischen das Hornvieh des Königes in den gewundenen Schluchten

       und Tälern des waldreichen Gebirges Ida. Die Götter hatten versprochen, auf diese Weise dem

       Könige ein Jahr lang zu frönen. Als nun diese Frist abgelaufen war, auch die herrliche Stadtmauer

       fertig stand, entzog der trügerische Laomedon den Göttern gewaltsam ihren gesamten Lohn, und als

       sie mit ihm rechteten und der beredte Apollo ihm bittere Vorwürfe machte, da jagte er beide fort,

       mit der Androhung, dem Phöbos Hände und Füße fesseln zu lassen, beiden aber die Ohren zu

       verstümmeln. Mit großer Erbitterung schieden die Götter und wurden Todfeinde des Königs und des

       Volkes der Trojaner; auch Athene kehrte sich von der Stadt, die bisher unter ihrem Schutz gestanden,

       ab, und schon jetzt war, einer stillschweigenden Einwilligung des Zeus zufolge, die eben erst mit

       stattlichen Mauern versehene Hauptstadt mit ihrem Königsgeschlecht und Volke diesen Göttern, zu

       welchen sich mit dem glühendsten Hasse in kurzer Zeit auch Hera gesellte, zum Verderben

       überlassen.

       Priamos, Hekabe und Paris

       Das weitere Los des Königes Laomedon und seiner Tochter Hesione ist schon von uns berichtet

       worden. Ihm folgte sein Sohn Priamos in der Regierung. Dieser vermählte sich in zweiter Ehe mit

       Hekabe oder Hekuba, der Tochter des phrygischen Königes Dymas. Ihr erster Sohn war Hektor. Als

       aber die Geburt ihres zweiten Kindes herannahete, da schaute Hekabe in einer dunkeln Nacht im

       Traume ein entsetzliches Gesicht. Ihr war, als gebäre sie einen Fackelbrand, der die ganze Stadt Troja

       in Flammen setze und zu Asche verbrenne. Erschrocken meldete sie diesen Traum ihrem Gemahle

       Priamos. Der ließ seinen Sohn aus erster Ehe, Aisakos mit Namen, kommen, welcher ein Wahrsager

       war und von seinem mütterlichen Großvater Merops die Kunst, Träume zu deuten, erlernt hatte.

       Aisakos erklärte, seine Stiefmutter Hekabe werde einen Sohn gebären, der seiner Vaterstadt zum

       Verderben gereichen müsse. Er riet daher, das Kind, das sie erwartete, auszusetzen. Wirklich gebar

       die Königin einen Sohn, und die Liebe zum Vaterland überwog bei ihr das Muttergefühl. Sie

       gestattete ihrem Gatten Priamos, das neugeborne Kind einem Sklaven zu geben, der es auf den Berg

       Ida tragen und daselbst aussetzen sollte. Der Knecht hieß Agelaos. Dieser tat, wie ihm befohlen war;

       aber eine Bärin reichte dem Säugling die Brust, und nach fünf Tagen fand der Sklave das Kind gesund

       und munter im Walde liegen. Jetzt hob er es auf, nahm es mit sich, erzog es auf seinem Äckerchen

       wie sein eigenes Kind und nannte den Knaben Paris.

       Als der Königssohn unter den Hirten zum Jünglinge herangewachsen war, zeichnete er sich durch

       Körperkraft und Schönheit aus und wurde ein Schutz aller Hirten des Berges Ida gegen die Räuber;

       daher ihn jene auch nur Alexander, das heißt Männerhilfe, nannten.

       Nun geschah es eines Tages, als er mitten im abwegsamsten und schattigsten Tale, das sich durch die

       Schluchten des Berges Ida hinzog, zwischen Tannen und Steineichen, ferne von seinen Herden, die

       den Zugang zu dieser Einsamkeit nicht fanden, an einen Baum gelehnt mit verschränkten Armen

       hinabschaute durch den Bergriß, der eine Durchsicht auf die Paläste Trojas und das ferne Meer

       gewährte, daß er einen Götterfußtritt vernahm, der die Erde um ihn her beben machte. Ehe er sich

       besinnen konnte, stand, halb von seinen Flügeln, halb von den Füßen getragen, Hermes der

       Götterbote, den goldnen Heroldsstab in den Händen, vor ihm; doch war auch er nur der Verkündiger

       einer neuen Göttererscheinung; denn drei himmlische Frauen, Göttinnen des Olymp, kamen mit

       leichten Füßen über das weiche, nie gemähete und nie gewendete Gras einhergeschritten, daß ein

       heiliger Schauer den Jüngling überlief und seine Stirnhaare sich aufrichteten. Doch der geflügelte

       Götterbote rief ihm entgegen: »Lege alle Furcht ab; die Göttinnen kommen zu dir als zu ihrem

       Schiedsrichter: dich haben sie gewählt, zu entscheiden, welche von ihnen dreien die schönste sei.

       Zeus befiehlt dir, dich diesem Richteramte zu unterziehen; er wird dir seinen Schirm und Beistand

       nicht versagen!« So sprach Hermes und erhob sich auf seinen Fittichen, den Augen des Königssohnes

       entschwebend, über das enge Tal empor. Seine Worte hatten dem blöden Hirten Mut eingeflößt; er

       wagte es, den schüchternen gesenkten Blick zu erheben und die göttlichen Gestalten, die in

       überirdischer Größe und Schönheit seines Spruches gewärtig vor ihm standen, zu mustern. Der erste

       Anblick schien ihm zu sagen, daß eine wie die andere wert sei, den Preis der Schönheit

       davonzutragen; doch gefiel ihm jetzt die eine Göttin mehr, jetzt die andere, so wie er länger auf einer

       der