Oberlippe hinterlassen –, da machte König Efuwâk mit knappen Worten, die keinen Widerspruch duldeten, all seine Vorfreude auf den angenehm zweckfreien Ritt zunichte.
»Mein Pferd ist schon gesattelt«, wagte Gúrguar dennoch zu protestieren. »Dass ich heute aufbrechen wollte, hast du lange im Voraus gewusst, Vater! Warum bestrafst du mich ausgerechnet jetzt mit diesem …« Er raffte seinen Jagdumhang und sandte dem Fremden einen vernichtenden Blick. »… diesem Auftrag?«
»Du bist ein Rüpel, Gúrguar.« Aus seinen hellen Augen musterte König Efuwâk den Prinzen voller Verachtung. »Gönne deiner Stimme und unseren Ohren eine Pause und verhalte dich gegenüber Syr Páno und mir gefälligst dem an diesem Hof geltenden Kodex gemäß!«
Gúrguar atmete scharf ein.
»Wie mir Syr Páno gerade mitgeteilt hat, hatte er gestern keine Gelegenheit, mit dir zu plaudern«, fuhr der König fort. »Sonst wüsstest du nämlich bereits, dass er ein Meistermusiker ist. Er beherrscht jedes denkbare Instrument in allen nur möglichen Tonlagen.«
Gúrguar warf dem Gast einen desinteressierten Blick zu. Syr Páno war ein hagerer Mensch, der in einem viel zu weiten Lederwams steckte. Um seine Beine schlapperte eine silberblaue Gauklerhose, die er zweimal nicht ausgefüllt hätte und die so gar nicht zu der adeligen Herkunft passen wollte, die das »Syr« andeutete. Ein roter, etwas abgetragener Umhang hing ihm schlaff über den Rücken; der vordere Teil des Kleidungsstücks zog sich bis zum Nasenbein hinauf und verhüllte so die untere Hälfte seines Gesichts. Nicht ohne Respekt erwiderte Syr Páno den Blick des Prinzen aus wachen grünen Augen. Seine Stirn war hoch und glatt, das nussbraune lange Haupthaar am Hinterkopf zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden.
»Was hab ich mit irgendwelchen Spielleuten zu tun?« Der Prinz wollte sich abwenden, da streckte sein Vater die Hand aus und packte ihn hart bei der Schulter.
»Sieh mich an, wenn ich zu dir spreche.« König Efuwâk flüsterte beinahe, doch seine Stimme klang umso bedrohlicher.
Gúrguar gehorchte widerwillig.
»Hier geht es um wichtigere Dinge als dein persönliches Vergnügen. Du bist der rechtmäßige Erbe meines Throns, und deshalb wirst du dazu beitragen, das Wohlergehen dieses Reiches zu sichern. Die politische Situation ist nicht allzu stabil, wie du weißt. Gerade die Handelsbeziehungen zwischen Düsterland und der Alten Stadt frieren allmählich ein. Wir müssen uns einen Vorteil verschaffen, einen Trumpf, den wir, falls die Umstände es erfordern sollten, ausspielen können.« Efuwâk senkte die Stimme. »Unser Erzfeind verfügt über einen solchen Trumpf. Es gibt Anzeichen dafür, dass er ihn demnächst einsetzen wird, um die nächste Partie für sich zu entscheiden.«
»Die Zwölf?«, riet Gúrguar. »Ich dachte, diese Gefahr wäre gebannt, immerhin ist es uns gelungen, viele von ihnen …«
»Ich spreche nicht von den Zwölf«, unterbrach ihn der König. »Obwohl auch sie als Diener des Feindes nach wie vor eine ernstzunehmende Bedrohung darstellen. Sondern ich spreche von Magie, genauer gesagt, von einem uralten Zauber, der Düsterland vernichten kann.«
»Was für ein Zauber soll das sein?«
Efuwâk schloss die Augen halb.
»Die magische Flöte des Yleriánt«, sagte er.
»Was?«, entfuhr es Gúrguar. »Das ist unmöglich. Sie ist seit Jahrhunderten verschollen!«
»Das dachten Syr Páno und ich bis gestern Abend auch.« Der König schüttelte bedächtig den Kopf. »Einzelheiten können wir aus Zeitmangel nicht noch einmal aufrollen. Für dich ist nur wichtig zu wissen, dass ein Mann namens Tímu als letzter im Besitz der Flöte gewesen sein soll. Er lebt – oder lebte bis vor ein paar Jahren, genauer wissen wir es nicht – in der Nähe des Felsabsturzes von Urtán. Das sollte dir reichen.«
»Um ihn zu finden?« Der Prinz starrte seinen Vater entgeistert an. »Um … um die Flöte zu finden?«
»Und ihren Träger unschädlich zu machen.« Efuwâk lächelte kühl. »Syr Páno wird dich begleiten. Er wird die Echtheit des Instruments feststellen und es unter deinem persönlichen Schutz nach Larkhâ bringen. Der Verlust der Flöte wird unseren Erzfeind lähmen, und wir werden endlich zum entscheidenden Gegenschlag ausholen können.«
»Aber Vater«, wandte Gúrguar ein, »ich wollte eigentlich etwas Anderes suchen. Hier in Düsterland. Du weißt, was mir prophezeit wurde und …«
»Prophezeit, pah!« König Efuwâk winkte ab. »Wer bist du, dass du auch nur einen Gedanken an das Gestammel einer verrückten alten Frau verschwendest? Du bist zu Höherem berufen. Derjenige, den du fürchtest, wenngleich ebenfalls ein Diener des Erzfeindes, ist ein kleiner Fisch im Vergleich zu den Zwölf, und schon gar zum Vermächtnis Yleriánts.«
Bei diesen Worten spürte Gúrguar ein bitteres Brennen in seiner Kehle. Verärgert strich er sich eine Haarsträhne zurück.
»Wozu haben wir die Armee, Vater? Warum schickst du nicht an meiner Stelle einen Spähtrupp los? Oder noch besser, lass die Hárkyds ausschwärmen, um sicherzugehen, dass …«
»Überlass das strategische Denken mir«, erwiderte der König schroff. »Die Soldaten zu mobilisieren, wäre viel zu auffällig. Diese Mission muss geheim bleiben. Niemand darf erfahren, dass der Herrscher von Larkhâ nach der Flöte des Yleriánt sucht. Jetzt geh und sattle dein Pferd! Syr Páno kommt gleich nach. Ich bin sicher, ihr werdet euch gut verstehen, du und er, wenn ihr euch erst einmal näher kennengelernt habt.«
»Mein Pferd ist schon gesattelt«, knirschte Gúrguar wütend, »und das sagte ich bereits, Vater.« Zackig wandte er sich um und verließ den Thronsaal mit laut hallenden Schritten, ohne dem König seinen Abschiedsgruß entboten zu haben.
»Für ein rasches Mittagsmahl bleibt noch Zeit«, bot Efuwâk seinem Gast mit dünnem Lächeln an. »Was sagt Ihr zu einem butterweichen Hirschbraten mit Nusshonigkruste?«
Anstatt etwas zu sagen, nickte Syr Páno anerkennend. Der König kehrte ihm den Rücken zu, um ins Speisezimmer vorauszugehen. Lautlos und mit einem selbstzufriedenen Lächeln unter dem Schleier schlich der Spielmann ihm hinterher.
Auf halbem Weg zog er einen Dolch aus seinem Gauklerwams.
Erste Strophe: Verwandlung
Weltenlied
Schweißgebadet fuhr Léun aus dem Schlaf hoch. Ächzend ließ er sich zurück auf sein Lager fallen, als ihm klarwurde, dass er das Grauen wieder einmal überstanden hatte. Er schloss die Augen und lauschte eine Weile seinem eigenen keuchenden Atem. Endlich rieb er sich den Schlaf aus dem Gesicht, gähnte, streckte sich und stand auf.
Wieder dieser Alptraum. Seit Jahren suchte er ihn heim, immer und immer wieder, in letzter Zeit fast jede Nacht. Im Traum war Léun auf der Flucht, jemand – oder etwas – trachtete ihm nach dem Leben. Atemlos hetzte er durch eine leere, öde Welt, ohne sich verstecken zu können.
Seltsamerweise wusste er nach dem Aufwachen nie, wovor er eigentlich flüchtete und warum. Manchmal sah er im Traum ein glühendes Augenpaar, dessen geschlitzte Pupillen ihn mordlüstern anstarrten. Dann rannte er weiter, ohne sich umzusehen. Oft hörte er ein dumpfes Grollen in der Ferne, wie von einem herannahenden Gewitter. Das wütende Gebrüll seines Verfolgers. Bisher war er ihm immer entkommen.
Diesmal allerdings hatte der Traum eine grässliche Wendung genommen: Das Biest, das ihn jagte, hatte ihn eingeholt. Ein blutrotes Maul mit spitzen, tödlichen Reißzähnen war das Letzte, was er sah, bevor er aufgewacht war.
Léun schauderte. Er trat an die Waschschüssel, tauchte beide Hände in das kalte Wasser und wusch sich gründlich das Gesicht und, so gut es ging, den restlichen Körper. Obwohl er sich Mühe gab, nichts zu verschütten, stand er danach in einer Wasserlache. Wie hatte er am Vorabend nur vergessen können, einen frischen Waschlappen mit auf seine Stube zu nehmen? Egal, er würde später sowieso an den See gehen. Da brauchte er es jetzt mit dem Waschen nicht allzu genau zu nehmen.
Bevor er sich anzog, vergewisserte