Es wurde ernst.
„Nun, ich denke, es wird euch genauso interessieren wie mich, mit wem wir es zu tun haben. Ich schlage vor, wir machen uns Namensschilder und stellen sie vor uns auf den Tisch. Das macht es für den Anfang leichter, den anderen anzusprechen.“
Gesagt, getan. Er baute auf seinem Tisch ein überdimensionales Namensschild auf: Teja Mackuth. Weder seinen Vor- noch seinen Nachnamen habe ich später in meinem Leben jemals wieder gehört.
Man konnte es eigentlich kaum glauben, wenn man sich die Leute so ansah, aber schreiben konnten sie tatsächlich alle schon. Und es sollten gerade einmal zwei, drei Minuten vergehen, schon waren dreißig käsige Schülergesichter mit Namen versehen.
Merkwürdig, wie doch ein Name bisweilen ein Leben lang die Eigenschaften der ihm zugehörigen Person widerzuspiegeln scheint. Ich persönlich bekomme Ausschlag bei Sophie, denn die Sophie, die mir gegenüber saß, hat mich nie abschreiben lassen. So was prägt fürs Leben.
Aber kommen wir zu den Namensschildern und den dahinter sitzenden Gestalten. Jedenfalls zu denen, die ich noch vor mir sehe.
Beginnen wir mit den Mädchen, so wie es sich gehört. Nicht, dass ich damals schon nach den Damen geschielt hätte … hmm, jedenfalls an diesem ersten Tag noch nicht. Das kam erst einige Zeit später. Aber das gehört hier nicht her.
Jedenfalls, ich las die Namen und schaute mir die Mädchen an. Runa und Selina. Ein seltsames Gespann. Runa passte nicht gerade als Model in die Teenie-Seiten vom Quelle-Katalog, aber sie sollte sich als die bei weitem intelligenteste herausstellen. Und nicht nur das, sie besaß ein großes Herz. Selina war ein unscheinbares Mädchen, sie fiel weder nach der guten noch der schlechten Seite auf. Sie und Runa waren unzertrennlich.
Die beiden Maries waren etwas frühreife Dinger, die unseren jungen Referendar Schulz so manches Mal mit ihren breiten Gürteln, die sie als Miniröcke bezeichneten, vom Thema abbrachten. Aber ansonsten waren sie in Ordnung.
Cora und Angelique. Tja, die Angelique. Die hatte sich den Biologieunterricht so zu Herzen genommen, dass sie in der zehnten Klasse als Mutter abging. Das Leben ist eben die beste Schule.
Und die Cora … ja, Cora war so etwas wie der heiße Feger der Klasse. Als sie Kevin Gläßel den ersten Kuss gab, wären wir anderen Jungs beinahe geschlossen vom Dach gesprungen. Aber sie hat’s wieder gut gemacht. Später kam jeder mal dran.
Die vorhin schon beschriebene Sophie und Lena. Zwei wie Tag und Nacht. Sophie war die Prima der Klasse, das muss man ihr lassen. Aber als Kumpel kann man sie nicht bezeichnen, denn sie ließ mich nie abschreiben. Außerdem spielte sie Blockflöte, und ich glaube, auch Klavier. Aber daran will ich mich nicht erinnern, brrrr ...! Doch sie sah super aus. Die unnahbare Schöne.
Die Lena war das genaue Gegenteil. Ein Mädchen zum Pferdestehlen und zudem eine recht erfahrene Frau. Sie hatte schon eine oder zwei Ehrenrunden gedreht …
Karina und Jana. Jana war meine erste große Liebe. Davon erzähl ich aber nichts. Das wäre mir doch eher unangenehm. Vielleicht später, solltet ihr keine Ruhe geben. Aber nur vielleicht …
Und die Karina. Jaaahh … die Karina war zwar recht klein, doch das glich sie durch ihre enorme Anziehungskraft aus. Sie hatte nämlich einen gewaltigen Busen. Aber das interessiert hier natürlich niemanden.
Kommen wir zu den Kerlen. Danny war und ist mein bester Freund. Wer einen besten Freund hat, dem brauche ich nicht zu erzählen, was das bedeutet. Zu unserer unzertrennlichen Clique gehörten noch Jörg, ein lieber Kerl mit guten Manieren, der schon damals mit Paragrafen um sich warf (er ist tatsächlich Anwalt geworden), Mathe, der alle Mädchen und Frauen Deutschlands mit Vor- und Nachnamen sowie die dazugehörigen Augen-, Haarfarben und Oberweiten kannte, und unser Freund Elle, der mit wallender Haarmähne und Hosenträgern bis heute intelligent und wild zugleich ist.
Außerhalb dieser Clique erinnere ich mich an zwei Kevins. Einen dummen dicken und einen kleinen schlauen (der mit dem ersten Kuss!).
Wieland war, wie der Schüler so sagt, ein Streber, aber auch ein Pfundskerl.
Dann sehe ich Tom und Hendrik vor mir. Tommy hatte eine Frisur wie der Struwwelpeter (echt!). Das war ein verschmitzter Kerl, da passten Aussehen und Charakter wirklich zusammen. Und Hendrik hätte sein Bruder sein können, nicht gerade äußerlich, aber der hatte auch ein paar der schärfsten Sprüche drauf …
Ein weiterer Tom und André gehörten damals auch zu meinen guten Freunden. Über ihre schulischen Leistungen sprechen wir lieber nicht, aber das soll ja hier auch nicht Thema sein, sonst … hmm … müsste ich ja auch über meine reden. Und das muss ja nun wirklich nicht sein.
Phillipp war ein unscheinbarer Mensch. Wegen seines Aussehens und seiner dicken Brille wurde er oft gehänselt. Aber ich weiß nicht, warum niemand mit ihm auskam, ich hab mich öfter mit ihm getroffen.
Joe und Alexander sind die letzten, die ich deutlich vor mir sehe. Joe war ein super Sportler und ein kleiner Frauenheld. Ich muss zugeben, er sah auch fast so gut aus wie ich. Und Alexander war ein wohlgenährtes, lustiges Kerlchen. Der hatte immer zwei rote Bäckchen wie der kleine Junge von der Zwiebackreklame.
So, jetzt reicht’s. Ich fand die Beschreibungen von Leuten und Landschaften (uäärrggsss … noch schlimmer!) schon immer ätzend. Erzähl ich euch lieber von dem Blödsinn, den wir so draufhatten und den die Lehrer und Eltern immer so toll fanden, dass sie uns ständig auf andere Schulen verteilen wollten. Ach, eins noch: Macht’s bitte nicht nach. Ich hab schon genug Ärger an der Backe.
Was wollt ihr hören? Noch mehr was mit Sex? Okay, könnt ihr haben. Muss ich nur ´n paar Tage vorspringen …
Tag 1122
Herr Michaelis unterrichtete Naturwissenschaften. Dazu gehörte Biologie und – wie er sich ausdrückte – angewandte Physik. Zum Zweck der praktischen Umsetzung der Errechnung von Strömungswinkeln mussten wir ein Modellflugzeug aus Balsaholz bauen. Mein Vater besitzt zwei linke Hände, und die hat er an mich weitergegeben, so dass ich nun insgesamt vier davon habe. Kurz: Das Modellflugzeug hauchte sein kurzes Leben auf seinem Jungfernflug aus. Ohne jeden terroristischen Hintergrund löste sich der Stolz von 32 Arbeitsstunden in der Luft in seine Einzelteile auf und zerbröselte auf einer unbekannten Wiese. Wenden wir uns lieber der Lehre des Lebens, also der Biologie, zu. Denn davon verstehe ich was.
Thema: Die Sexualität des Menschen.
Also, auch Herr Michaelis war ein Mensch. Vielleicht ist er es heute noch. Mensch und Biologielehrer. Studien am eigenen Objekt hätten sich unbedingt angeboten, denn der Typ sah aus wie eine zu groß geratene Kartoffel. Er besaß die imposante Größe von einem Meter sechzig. Wegen dieses Umstandes ließ er Stühle grundsätzlich unbeachtet. Sein Bauch glich einem Fass. Den Hals schien der liebe Gott vergessen zu haben, dafür war sein Kopf eine wahre Fundgrube für Portraitmaler. Tiefe Furchen gruben sich von seinen Augen bis hinunter zur Nase, deren Anatomie ein eigenes Fachbuch wert gewesen wäre. Dieser Nase verdankte er seinen Spitznamen Knolle. Das war bei weitem nicht sein einziger. Wenn euch Wurstfinger oder Amöbenkalle lieber sind, bitte sehr, bedient euch.
Okay, seien wir nicht so gemein. Mochten auch seine äußerlichen Absonderlichkeiten nicht ganz abzustreiten sein, seine Augen blickten wahrhaft gütig aus dem zerfurchten Gesicht hervor (mein Gott, was sag ich da?). Es geschah nur selten, dass der kleine Berg, der aussah wie ein Kampfpanzer, explodierte. Dann aber wurde er zum Vulkan, und wir hatten tatsächlich etwas Respekt vor ihm. Aber wie gesagt, dass geschah nur selten.
Ja, okay, zurück zum Thema: Die Sexualität des Menschen.
Ihr wisst sicher, was Sexualität ist. Ich ähhh … muss das nicht erklären. Danke. Ich weiß allerdings nicht, ob Herr Michaelis wusste, was Sexualität ist, denn das Thema stand zwar für dieses zweite Halbjahr im Lehrplan, aber die Wochen und Monate vergingen, ohne dass Knolle damit anfing. Zugegeben, er hatte uns Literatur empfohlen, z.B. Aufbau und Funktion der