Emile Zola

Germinal


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      So fuhr die Maheu fort mit bekümmerter Stimme und unbeweglichem Kopfe; vor dem schwachen Lichte der Kerze schloß sie von Zeit zu Zeit die Augen. Der Schrank sei leer, sagte sie, und die Kleinen verlangten Brotschnitten zum Kaffee, der ebenfalls ausgegangen. Das leere Wasser mache nur Bauchzwicken. Dann erzählte sie von den langen Tagen, die man damit zubringe, daß man mit gekochten Kohlblättern den Hunger täusche. Allmählich hatte sie die Stimme erhöhen müssen, weil Estelles Geheul ihre Worte übertönte. Das Geschrei der Kleinen ward unerträglich. Maheu schien es plötzlich zu hören; außer sich vor Wut nahm er das Kind aus der Wiege und schleuderte es auf das Bett der Mutter mit den Worten:

      »Da, nimm sie, denn ich würde sie zertreten... Donner Gottes über den Balg! Das sauft an der Mutterbrust, dem geht nichts ab, und es gröhlt ärger als die anderen!«

      Estelle hatte in der Tat zu saugen begonnen; sie war unter der Decke verschwunden und in der Bettwärme still geworden; man hörte nichts mehr als das gierige Lutschen ihrer Lippen.

      »Haben die Bürgersleute von Piolaine dir nicht gesagt, daß du sie besuchen sollst?« fragte der Mann nach einer Weile.

      Die Frau spitzte die Lippen mit einer Miene mutlosen Zweifels.

      »Ja, sie sind mir begegnet«, antwortete sie. »Sie bringen den armen Kindern Kleider... Ich werde heut' morgen Leonore und Heinrich hinführen. Vielleicht geben sie mir hundert Sous.«

      Wieder trat ein Schweigen ein. Maheu war fertig. Er blieb einen Augenblick unbeweglich, dann schloß er mit seiner dumpfen Stimme:

      »Was willst du? Es ist einmal so: bringe, wie du kannst, die Abendsuppe fertig. Das Schwatzen führt zu nichts; es wird besser sein, wenn ich zur Arbeit gehe.«

      »Gewiß«, sagte die Maheu. »Blase das Licht aus; ich kann mir auch, im Finstern den Kopf zerbrechen.« Er blies die Kerze aus. Zacharias und Johannes stiegen schon hinunter, er folgte ihnen; die hölzerne Treppe krachte unter seinen schweren, mit wollenen Strümpfen bekleideten Füßen. Die Stube und der Flurgang hinter ihnen lagen jetzt wieder in Finsternis. Die Kinder schliefen; Auch Alzire hatte wieder die Augen geschlossen. Nur die Mutter schaute mit offenen Augen in die Finsternis, während an ihrer hängenden Brust eines erschöpften Weibes Estelle brummte wie ein junges Kätzchen.

      In der Wohnstube im Erdgeschoß beschäftigte sich Katharina zunächst mit dem Feuer. Es stand ein Kamin aus Gußeisen da mit einem Rost in der Mitte und einem Backofen auf jeder Seite. In diesem Kamin brannte unaufhörlich ein Kohlenfeuer. Die Gesellschaft verteilte monatlich acht Hektoliter Abfallkohle an jede Familie. Dieser auf den Straßen zusammengelesene Staub entzündete sich nur schwer. Darum deckte das Mädchen jeden Abend das Feuer mit Asche zu; am Morgen brauchte sie nur umzurühren und einige aus dem Schmutz sorgfältig herausgesuchte Kohlenstückchen aufzulegen. Dann setzte sie einen Kochtopf auf den Rost und hockte vor dem Speiseschrank nieder.

      Es war eine ziemlich geräumige Stube, die das ganze Erdgeschoß einnahm; sie war apfelgrün gestrichen und von holländischer Sauberkeit mit den blank gescheuerten und mit feinem weißen Sande bestreuten Fliesen. Außer dem Speiseschrank von gefirnißtem Tannenholze bestand die Einrichtung aus einem Tische und Sesseln von demselben Holze. An den Mauern hingen grell gemalte Bilder, von der Gesellschaft geschenkt, sie stellten den Kaiser und die Kaiserin dar, weiterhin Soldaten und Heilige in goldenen Gewändern, die von der hellen Kahlheit der Mauern abstachen. Anderer Zierat fand sich nicht in der Stube als eine Schachtel von rosafarbenem Kartonpapier auf dem Speiseschrank und die Kuckucksuhr in buntbemaltem Kasten, deren helles Ticktack die Leere der hohen Stube auszufüllen schien. Neben der Tür, die sich auf die Treppe öffnete, war noch eine zweite Tür, die in den Keller führte. Trotz der Reinlichkeit verdarb ein seit dem Abend eingeschlossener Geruch von verbrannten Zwiebeln die Luft, diese heiße, schwere, stets von einem scharfen Kohlengeruch gesättigte Luft.

      Katharina hockte sinnend vor dem offenen Speiseschrank. Es war nichts geblieben als ein Stück Brot, weißer Käse zur Genüge, aber kaum ein Krümchen Butter; und es galt, vier Butterbrote zurechtzumachen. Endlich entschloß sie sich, schnitt die Brotstücke, bedeckte eines mit Käse, bestrich ein zweites mit Butter und legte die beiden zusammen. Das war der »Ziegel«, die Doppelschnitte, die jeden Morgen in die Grube mitgenommen wurde. Bald lagen die vier »Ziegel« nebeneinander auf dem Tische, mit größter Genauigkeit aufgeteilt, von dem größten, der für den Vater bestimmt war, bis zu dem kleinsten, den Johannes bekam.

      Katharina, scheinbar ganz bei ihrer Arbeit, dachte über die Geschichten nach, die Zacharias von dem Oberaufseher und der Frau Pierron erzählte. Sie öffnete die Haustür zur Hälfte und warf einen Blick hinaus. Der Wind blies noch immer; an den niedrigen Häuserreihen des Dorfes flammten immer mehr Lichter auf, und das undeutliche Getümmel der erwachenden Bevölkerung machte sich vernehmbar. Türen wurden geöffnet und geschlossen; einzelne dunkle Reihen von Arbeitern zogen durch die Nacht dahin. Sie war doch recht dumm, sich einer Erkältung auszusetzen, da ja der Häuer gewiß zu Hause schlief, bis er um sechs Uhr seine Arbeit aufnehmen mußte. Aber sie verharrte dennoch in ihrer hockenden Stellung und beobachtete das Haus, das auf der anderen Seite hinter den Gärten lag. Jetzt ging die Türe auf, und ihre Neugierde ward wieder rege. Doch das konnte nur Lydia sein, die Tochter der Pierronschen Eheleute, die zur Grube ging.

      Ein zischendes Geräusch veranlaßte sie, den Kopf zu wenden. Sie schloß die Tür und eilte zum Herde: das Wasser kochte, floß über und drohte das Feuer zu verlöschen.

      Es war kein Kaffee mehr da: sie mußte sich begnügen, Wasser auf den Satz von gestern zu schütten. Dann süßte sie den Inhalt der Kaffeekanne mit Farinzucker. Eben kamen ihr Vater und ihre beiden Brüder herunter.

      »Alle Wetter!« sagte Zacharias, als er die Nase in den Napf gesteckt hatte, »der Trank wird uns nicht zu Kopf steigen.«

      Maheu zuckte resigniert die Achseln.

      »Bah!« sagte er; »man hat wenigstens etwas Warmes im Leibe, und das tut wohl.«

      Johannes hatte die Brosamen neben den Schnitten zusammengescharrt und in seinen Napf geworfen. Nachdem sie getrunken, goß Katharina den Rest des Kaffees in die blechernen Feldflaschen. Alle vier standen in dem fahlen Lichte der rauchigen Kerze und stürzten in aller Hast den Trunk hinunter.

      »Sind wir endlich fertig?« fragte der Vater. »Man möchte glauben, daß wir von unseren Renten leben.«

      Doch jetzt wurde von der Treppe her, deren Tür sie offen gelassen hatten, eine Stimme vernehmbar. Frau Maheu rief:

      »Nehmt alles Brot; ich habe noch einen Rest Nudeln für die Kinder übrig.«

      »Ja, ja«, antwortete Katharina.

      Sie hatte das Feuer wieder zugedeckt und in einer Ecke des Rostes einen Rest Suppe warmgestellt, den der Großvater, der um sechs Uhr kam, vorfinden sollte. Jeder holte unter dem Eßschrank seine Holzschuhe hervor, hängte die Feldflasche um und schob die Butterschnitte in den Rücken zwischen Hemd und Jacke. Dann brachen sie auf, die Männer voraus, das Mädchen hinterdrein, nachdem es die Kerze ausgelöscht und den Schlüssel umgedreht. Das Haus verfiel wieder in Stille und Dunkelheit.

      »Wir gehen zusammen«, sagte ein Mann, der die Türe des Nachbarhauses schloß.

      Es war Levaque mit seinem Sohn Bebert, einem Jungen von zwölf Jahren, der mit Johannes eng befreundet war. Katharina war erstaunt, unterdrückte ein Lächeln und flüsterte Zacharias ins Ohr: »Wie? Bouteloup wartete nicht einmal, bis der Mann fort war?«

      Die Lichter im Dorfe erloschen jetzt nacheinander. Eine letzte Tür fiel ins Schloß, dann ward alles wieder still; die Frauen und Kinder setzten in den bequemer gewordenen Betten ihren Schlaf fort. Vom Dorfe bis zu dem pustenden Voreux-Schachte bewegte sich ein langsamer Zug von Schatten, es war der Aufbruch der Kohlenarbeiter zum Werke, die ihre Schultern dahinschoben und ihre Arme, mit denen sie nichts anzufangen wußten, über die Brust kreuzten, während der Brotvorrat auf dem Rücken eines jeden einen kleinen Höcker bildete. Bloß mit dünner Leinwand bekleidet, zitterten sie in der Kälte, ohne sich deshalb mehr zu beeilen; in regelloser Weise zogen sie mit dem Getrappel einer Herde längs des Weges hin.