immer es ging.«
»Hat sie nicht. Sie gab mir die Aufgabe, es herauszufinden, und glücklicherweise habe ich meine Quellen …«, dass er schon seit drei Jahren wusste, wo ihr traditioneller Urlaubsort sich befand, verschwieg er.
»Sind Sie ernsthaft hergekommen, um mir das mitzuteilen?«
»Gewiss. Mir erschien unser beider Aufeinandertreffen äußerst erfreulich, bis dieses Missverständnis auftrat. Ich hätte es sehr schade gefunden, wenn alles daran scheitern würde.«
Sie gab nicht zu, dass er recht hatte und sie beeindruckt war. Dennoch fiel ihm ihre besänftigte Stimme auf: »Nun denn, das haben Sie ja jetzt. Und wie gedenken Sie, geht es weiter?«
»Als Erstes finden wir die Pferde«, schlug er vor, »und dann, so hoffe ich, setzen wir unser interessantes Gespräch von letztens fort.«
Die Pferde fanden sie tatsächlich erst ein paar Stunden später, in denen sie zuerst über die Landschaft, dann über Gedichte und schließlich über ihre Kindheit philosophiert hatten, dabei aber tunlichst verschwiegen, wie sehr sie in den letzten Tagen, ob der jüngsten Ereignisse gelitten hatten.
Nach dem Ball war Theodor erst genauso wütend gewesen wie Alvine. Erst auf sie, schließlich auf sich selbst. Und der Duft ihrer Haare hatte sich quälend in seiner Nase festgesetzt, wenngleich diese wie jedes Jahr von seiner allergischen Rhinitis juckte. Dann war er Hals über Kopf losgestürmt und hatte zum Glück das einzige Familienmitglied Hoheloh angetroffen, das auf seiner Seite war.
Dorothea saß mit ihrem Dienstmädchen Alma in der offenen Kutsche, um zu einem Termin zu fahren. Sie durchquerte gerade das Haupttor des hoheloh’schen Anwesens, als sie den Hünen auf seiner wunderschönen braunen Stute herannahen sah und sofort sein Gesicht erkannte.
Entschlossen hob sie ihren Arm, sodass er sie bemerkte. Sie stieg aus der Kutsche und lief ein paar Schritte mit ihm. Sie ließ sich leidenschaftslos von ihm rekonstruieren, was geschehen war, und er offenbarte auch, dass Alvine und er einander wenige Tage zuvor bereits getroffen hatten. (Woraufhin sie schlussfolgerte, dass daher die letzte Grübelei ihrer Tochter rührte.)
Sie erzählte ihm sodann etwas über Alvines Lebens- und Bildungsweg, und dass es das Beste sei, wollte er künftig mit ihr Umgang pflegen, diesen Zwist besser heute als morgen aus dem Weg zu räumen. Kaum zehn Minuten hatten sie für all das gebraucht.
Theodor kam diese Erlaubnis nur allzu günstig, da er sich vor Sehnsucht fast verzehrte. Mit dem nächsten Zug kam er angefahren, nahm sich in der Dorfschenke ein Zimmer, begrüßte seine alte Flamme, die Wirtstochter, die mittlerweile dreifache Mutter war, im Vorbeigehen und ritt auf dem Leihpferd Asra zu Friedgolds Hof.
Dort erklärte ihm ein mehr als verwirrter Stallmeister, dass Alvine unterwegs sei, er aber warten könne. Doch das war für Theodor keine Alternative und so stürmte er stundenlang durch den Wald, bis er auf einmal ihren Geruch wahrzunehmen schien.
Wie sie feststellten, lahmte Asra und Strumpf hatte nichts Besseres zu tun, als ihm noch immer an seinem Ohr herumzuknabbern. Nur langsam traten sie den Rückweg an, bei dem sie die Pferde führten und das Gespräch fortsetzten.
Theodor beeindruckte Alvine zusehends, vor allem als er durchblicken ließ, dass er stark mit der aufstrebenden Arbeiter*inpartei sympathisierte und einige Funktionär*innen persönlich kannte.
»Kennen Sie Frau Luxemburg?«
»In natura habe ich sie leider noch nicht getroffen«, musste er zugeben, »doch wie ich hörte, ist auch sie eines Ihrer Vorbilder?«
»Man kann es so vielleicht nicht sagen, ich bewundere sie – gewiss. Aber ich habe die Befürchtung, dass sie in ihren Kämpfen für die Arbeiterklasse die Frauenrechte übersieht.«
»Sie unterteilt die Arbeiterschaft nicht in Frauen und Männer. Sie glaubt an eine gemeinsame Befreiung, sollte diese erst errungen sein. Damit ist sie beileibe nicht die Einzige«, sinnierte Theodor.
»Nur frage ich mich, ob es so einfach ist, wie sie es sich vorstellt.«
»Die Frauenunterdrückung scheint mir jede Klasse zu betreiben«, sagte er traurig, »daran sieht man allerdings auch, wie gleich wir alle sind.«
»Sie scheinen mir ja doch ein kluger Kopf zu sein.«.
»Danke«, lächelte er.
»Wie war es Ihnen an jenem Abend dann nicht möglich, ihn zu benutzen?«, fragte sie erneut, diesmal jedoch weitaus sanfter.
»Ich war überwältigt, Fräulein Hoheloh. Von der Tatsache, dass Sie besagte Tochter waren und davon, was das Leben so für mich bereithielt. Und zudem verstanden wir uns so gut, dass ich mein Glück kaum fassen konnte.«
»Auch ich muss zugeben, dass ich mich amüsiert habe.«
»Das freut mich.«
Als es Alvine bewusst wurde, sprudelte es sodann aus ihr heraus: »Es ist äußerst erfrischend, einmal die Meinung eines einsichtigen Herren zu erfahren, der mir nicht so nahe steht wie meine Brüder oder mein Vater.«
Theodor verbarg die Enttäuschung über das Nicht-nahe-Stehen und fragte stattdessen: »Was halten die denn davon?«
»Ich will es so sagen: Ich habe meine Familie wohl Schritt für Schritt daran gewöhnt. Da es bei uns Sitte ist, alles zu bereden, was wir erlebt und gelernt haben, und da sie wohlwollende Menschen sind, erkannten sie die Missstände schon vor meiner Geburt. Zudem wuchsen meine Brüder mit dem Wissen auf, dass meine Eltern Geschäftspartner sind. Sie billigten ihren Ehefrauen das gleiche Recht zu. Sie hatten die Wahl, ob sie den vollkommenen Schutz ihrer Männer genießen und nur innerhalb des Hauses walten wollten oder ob sie mit ihnen zusammen Geschäftliches und Privates organisieren. Marie und Rebecca wählten das Beispiel, das auch meine Eltern leben: Unser Unternehmen funktioniert, weil meine Mutter gesellschaftet und mein Vater die Aufträge, die sie uns ermöglicht, betreut und abwickelt.«
»Uns?«
»Ich sagte Ihnen bereits, dass ich ihm in der Firma zur Hand gehe?«
»Gewiss und das verhält sich wie genau?«
Alvine bat ihn erst um Verschwiegenheit und er schwor bei seiner Mutter, ehe sie ihm verriet, dass sie selbst mehr und mehr die Geschäfte leitete, Aufträge aushandelte und Kaufverträge – wenn auch postalisch – schon ein ums andere Mal unterzeichnet hatte.
»Das ist äußerst faszinierend, Ihr Vater scheint Sie sehr zu lieben.«
»In allererster Linie glaubt er an mich und meine Fähigkeiten«, gab sie stolz zurück.
»Chapeau! Was für beneidenswerte Familienverhältnisse.«
Sie vernahm wohl die Spur Trauer in seiner Stimme und schlussfolgerte: »Ist es bei Ihnen zu Hause anders?«
Nun ließ er sich den Schwur auf ihre Mutter abnehmen, dass sie mit niemandem darüber sprechen würde. Sie lachten, ehe er fortfuhr: »Leider ja. Vor allem mein Vater ist äußerst unzufrieden mit mir. Schon immer. Es war egal, was ich tat oder sagte. Meinen Bruder allerdings mag er.«
»Sie haben einen Bruder?«
»Ja, Fräulein Hoheloh«, lachte er, »wussten Sie nicht, dass er eigentlich derjenige war, der Ihnen an jenem Abend vorgestellt werden sollte?«
»Nun veralbern Sie mich.«
»Mitnichten! So war es. Doch als ich sah, um wen es sich handelte, Sie werden mir verzeihen, entschied ich, lieber dazwischen zu gehen.«
Alvine lachte herzlich: »Ich muss gestehen, niemand hatte mir den Vornamen desjenigen verraten, den ich kennenlernen sollte.«
»Nun, das war mein Glück. Sonst hätten Sie mir geantwortet: Verzeihung, ich soll heute mit Konrad tanzen.«
»Das hätte ich gewiss nicht«, gab sie lächelnd zurück.
Mittlerweile waren sie am Gestüt angekommen und sofort wurde der Tierarzt gerufen, der bei Asra eine Sehnscheidenentzündung