ganze Wörter. Man müsste einfach Papier haben, um das auszuprobieren.“
„Geheimschrift ... “, sinnierte Tommy, „Warum nicht? Nur welche? Damit, liebe Freunde, habe ich mich noch nie befasst. Vielleicht sollte einer von uns nach Hause gehen und was zum Schreiben organisieren?“
Noch während er dies sagte, durchzuckte mich ein Gedanke und mir wurde heiß.
„Halt!“, rief ich oder wohl besser, schrie ich, denn die anderen fuhren bei meinem Ausruf zusammen. „Ich glaube, ich weiß, was das bedeuten könnte!“
„Mensch, Joe! Erschreck mich nicht so! Wenn du so schreist, machen wir noch die Nachbarn auf uns aufmerksam!“ Sanne redete schon wie meine Mutter.
„Passt auf, ich habe doch ständig Ärger mit meiner Mutter, weil ich stundenlang vor dem Computer hocke. Aber wenn ich jetzt Recht habe, dann sollte mir Mutti stattdessen einen größeren Arbeitsspeicher spendieren!“
„Nun mach schon“, rief Sanne ungeduldig, „Von dem Haus hier dürfen wir unseren Eltern sowieso nichts erzählen.“
„Also, ich hatte mal den Ehrgeiz, mir Programmiersprachen beizubringen. Eine davon ist Java. Ich hab' das ganz schnell wieder bleiben lassen, denn das ist wahnsinnig umständlich und langweilig. Aber ich bin damals auf was gestoßen, das man ASCII-Code nennt.“
„Was bitte?“, fragte Tommy ungläubig, und meine Brust schwoll richtig an, denn es war eine der seltenen Gelegenheiten, in denen ich Tommy was beibringen konnte.
„Genau weiß ich das auch nicht mehr, aber Java kann mit diesem Code umgehen. Und schaut mich bitte nicht so an! Wie das funktioniert ... keine Ahnung! Aber ich bin bei diesem Kurs im Internet auf eine Anwendung gestoßen, die ganz und gar nicht langweilig war. Und Janine, du hast mich wieder darauf gebracht!“
Janine schaute mich erwartungsvoll an, und die folgenden Worte kostete ich so richtig aus, um ein klein wenig in ihrer Achtung zu steigen.
„Man kann diesen Code als Geheimschrift verwenden!“
Sechs Augen starrten mich ungläubig an. Ich spannte sie ein wenig auf die Folter, aber dann platzte es aus mir heraus.
„Und der Code besteht aus Zahlen zwischen sechzig und neunzig. Jedenfalls, soweit es Großbuchstaben angeht.“
„Mann!“, entfuhr es Tommy. „Kannst du das noch zusammenbringen?“
„Klar“, sagte ich souverän. „Das ist so einfach wie genial. Eine simple Formel belegt die Buchstaben mit Zahlen. Bei Großbuchstaben ist es zwei hoch sechs und dann plus die Stelle, an der der jeweilige Buchstabe im Alphabet steht. Also ... “, erklärte ich meinen staunenden Zuhörern, „brauchst du ein A, rechnest du zwei hoch sechs gleich vierundsechzig plus eins für das A als ersten Buchstaben im Alphabet und heraus kommt fünfundsechzig für die Geheimschrift. Das B ist dann die sechsundsechzig, und so weiter.“
Während die Mädchen noch über der Aufgabe brüteten, malte Tommy bereits das Alphabet in den Sand, schrieb die fünfundsechzig unter das A, die sechsundsechzig unter das B und so weiter. Schließlich verfügte jeder Buchstabe über sein Gegenüber als Zahl, und wir betrachteten das Ergebnis voller Spannung.
„Alles Zahlen zwischen achtundsechzig und neunzig. Dann wollen wir mal. Ach Joe ... “
Irgendetwas war ihm noch eingefallen.
„Wie ist es mit dem Ä oder dem Ü?“
„Die schreibt man als AE oder UE“, erwiderte ich.
„Gut“, sagte er nur und begann, die Zahlenreihe mit den nun vorhandenen Buchstaben zu unterlegen. Ich war unglaublich aufgeregt, und auch die anderen traten ungeduldig von einem Bein aufs andere. Und noch bevor Tommy fertig war, wusste ich, dass meine Eingebung richtig gewesen war. Die ersten Buchstaben formten sich zu einem Wort, und nach wenigen Minuten waren es fünf, die dort durch Tommy in den Sand gekratzt erschienen. Als Tommy fertig war, richtete er sich langsam wieder auf, und wir vier standen schweigend vor dem Ergebnis.
DIESE WORTE SIND DIE TUER
„Joe“, sagte Tommy plötzlich und schlug mir auf die Schulter. „Ab sofort nenne ich dich Einstein!“
Das ging runter wie Öl, und ich hoffte nur, dass ich nicht rot wurde, während Janine und Sanne mich bewundernd anguckten. Ich konnte mich allerdings nicht lange in meinem Erfolg sonnen, denn das Rätsel der Zahlen gelöst zu haben, war eine Sache, doch was hatten wir nun davon, dass sie da vor uns in den Sand geschrieben standen und uns das nächste Rätsel aufgaben?
„Wie können Worte eine Tür sein?“, fragte Sanne.
„Vielleicht als Codeworte, so wie beim Handy, wenn du die Sprachwahl programmiert hast?“, überlegte Tommy.
Ich schüttelte zweifelnd den Kopf.
„Das ist doch blöd. Oder könnt ihr euch vorstellen, dass man sich hier vor die Wand stellen und „Diese Worte sind die Tür!“ rufen soll? Also, ich weiß nicht.“
Janine verlor die Geduld.
„Warum denn nicht? Wozu haben wir denn rausgekriegt, was die Botschaft bedeutet, wenn wir es jetzt nicht ausprobieren? Ich versuch’s jedenfalls!“
Es war zwar etwas albern, aber gespannt schauten wir zu, wie Janine sich vor der Hauswand aufbaute, die Hände in die Seiten stemmte und so laut „Diese Worte sind die Tür!“ rief, dass ich mich unwillkürlich umblickte und einen Blick über die Hecke warf, ob uns nicht jemand kopfschüttelnd zuschaute. Doch es war niemand zu sehen.
Einige Sekunden vergingen, in denen wir wie gebannt auf den graubraunen Rauputz starrten und darauf warteten, dass sich eine Öffnung auftat. Aber natürlich tat sich nichts.
Janine war sichtlich enttäuscht. Schließlich war sie es gewesen, die die Holografie entdeckt hatte und die sich obendrein getraut hatte, einen eigentlich dummen Satz gegen eine Wand zu rufen. Wütend stampfte sie mit dem Fuß auf.
Und dann geschah etwas, das mir bis heute noch eine Gänsehaut den Rücken hinauf kriechen lässt, wenn ich nur daran denke. Als es geschah, erstarrte wohl jeder von uns anderen Dreien, die das mit ansehen mussten, zur grauenhaften Unbeweglichkeit, und das Blut gefror uns in den Adern.
Janine sprang in ihrer Enttäuschung vor und wollte mit den Fäusten gegen das Haus hämmern.
„Mach auf, du blödes ... “, rief sie, und noch während sie dies rief und auf das Haus einschlagen wollte, verschwanden ihre Arme in der Wand. Völlig überrascht davon, dass sie keinen Halt fand, verlor Janine das Gleichgewicht und fiel kopfüber in das Haus. Mit eisigem Schrecken und weit aufgerissenen Augen mussten wir mit ansehen, wie ihr Körper in der Mitte zweigeteilt wurde. Ihr Bauch schien wie mit einem Messer abgeschnitten zu sein, und der noch sichtbare Unterkörper fiel auf den Boden. Die Beine strampelten grauenhaft und wirbelten Staubwolken aus feinem Sand auf. Doch das Allerschlimmste war, dass nach dem ersten erstickten Schrei kein einziger Laut mehr von Janine zu uns nach draußen drang.
In diesem Moment war ich mir sicher, Janine müsste sterben.
*
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