Micha Rau

Seelenkerne


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lernen muss. Er hat so was wie ein fotografisches Gedächtnis.“

      „So eins wünsch ich mir zum Geburtstag!“, entfuhr es Leon.

      Wir mussten lachen. Ich musste an mein eigenes Zeugnis denken. Besonders gut war es nicht gewesen, aber immerhin hatte ich mich verbessert.

      „Aber diesmal bist du versetzt worden?“, fragte ich.

      „Ja, aber mit Ach und Krach. Sie wollten mich schon von der Schule verweisen. Ich soll auf eine Sonderschule gehen. Aber dort haben sie erst wieder im nächsten Halbjahr einen Platz frei. Solange darf ich noch bleiben. Aber dann muss ich wohl auf diese blöde Schule. Aber ich geh da nicht hin. Niemals!“

      Ich sah, wie sich seine Augen mit Tränen füllten. Sein Gesicht nahm einen wild entschlossenen Ausdruck an. „Lieber hau ich ab! Dort gibt es eine Bande, die alle anderen bedroht und erpresst. Ich kenne ein paar von denen. Wenn ich da hin muss, reiße ich lieber aus!“

      „Nein!“, sagte Tommy so laut, dass ich zusammenzuckte. „Das hilft auch nicht weiter. So wirst du nur noch größere Schwierigkeiten bekommen. Was ist mit deinen Eltern? Stehen sie dir bei?“

      Leon blickte zu Boden. „Das können sie nicht. Sie sind nicht mehr am Leben. Ich war noch ganz klein, als sie bei einem Autounfall ums Leben kamen.“

      Sekundenlang herrschte betroffenes Schweigen.

      „Leon lebt bei seiner Tante“, sagte Janine leise. „Aber die ist schon recht alt und kann ihm nicht helfen. Tommy … ich hab Leon mitgebracht, weil ich dachte, dass du ihm vielleicht helfen könntest. Du weißt doch so viel.“

      Tommy lächelte hilflos. „Ja, aber ich kann es nicht erklären, warum ich mir so viel merke. Ich lese es, und dann weiß ich es. Es ist einfach so. Das kann man nicht beibringen. Es ist eine Gabe, für die ich nichts kann.“

      Tommy blickte Janines Schulkameraden ruhig an. „Leon …“, sagte er behutsam. „Ich habe meinen Vater verloren, als ich drei Jahre alt war.“

      Bei Tommys Worten löste Leon seinen Blick vom Teppichboden und schaute überrascht in die Augen meines Freundes.

      „Wirklich?“

      „Ja. Ich weiß, wie es ist, das Beste zu verlieren, das man als Kind hat. Gott sei Dank war meine Mutter immer für mich da. Aber viele Dinge kann nur ein Vater erklären, und ich hab ihn viele Jahre so vermisst, dass ich oft nicht mehr weiter wusste. Als ich in die Schule kam, war ich so ein Problemfall, dass man mich auch auf eine Sonderschule schicken wollte.“

      Janine hob überrascht die Brauen. „Das hast du noch nie erzählt!“

      „War ja bisher auch nicht wichtig“, meinte mein Freund. „Aber vielleicht hat dich der Verlust deiner Eltern so getroffen, dass du deswegen nicht gut lernen kannst.“

      „Meinst du?“, fragte Leon zweifelnd. „Aber es ist doch schon so lange her. Ich weiß nicht. Ich lerne doch wie verrückt. Und dann ist es wieder weg. Das ist so wie deine Gabe, nur umgekehrt.“

      Tommy musste lachen. „Leon, du bist in Ordnung! Aber der Tod der Eltern kann etwas auslösen, das ein Leben lang da ist, und du merkst es gar nicht. Vielleicht willst du gar nicht älter werden, weil du die Zeit vor dem Tod deiner Eltern wiederhaben willst und lernst deswegen nichts.“

      Verblüfft dachten wir einige Sekunden über das nach, was Tommy gesagt hatte. Das konnte ich mir gar nicht vorstellen. Obwohl … älter werden wollte ich eigentlich auch nicht. Mein Vater war oft zehn Stunden oder mehr von zu Hause weg. Da war mir die Schule doch lieber. Und spielen tat er auch nicht mehr. Und Abenteuer erleben auch nicht. Und …

      „Aber jetzt hast du ja jemanden, der dir hilft“, unterbrach Tommy meine Gedankengänge.

      „Ja“, sagte Leon dankbar. „Janine ist toll! Auf jeden Fall macht es jetzt mehr Spaß. Aber wenn sie mich am nächsten Tag abfragt, ist es auch nicht viel besser.“

      „Dann helfen wir dir alle!“, sagte Sanne spontan. „Das können wir doch! Oder, Tommy?“

      Tommy nickte. „Klar können wir das! Vielleicht können wir ein paar Tricks rausfinden, die du vor Klassenarbeiten gebrauchen kannst. Vielleicht hilft es dir, wenn du morgens früher aufstehst und vor der Schule lernst. Dann ist es noch ganz frisch. Du musst halt vieles ausprobieren.“

      Hab ich schon“, murmelte Leon. „Ich hab alles probiert, was man sich vorstellen kann, aber es ist wie ein großes Loch hier oben.“ Er tippte sich an die Stirn. „Aber vielen Dank. Ihr seid echt nett!“

      „Das sind wir!“, lachte Janine und griff sich ein paar Erdbeeren. „Auf jeden Fall werden wir versuchen, dir zu helfen.“

      „Ja!“, rief Sanne. „Vielleicht helfen Lern-CDs. Ich höre oft abends im Bett Englisch-CDs. Das macht richtig Spaß!“

      „Du lernst sozusagen im Schlaf!“, neckte ich sie.

      „Besser, als immer Mickey-Maus zu lesen!“, grinste sie mich an.

      Das saß. Ich hob abwehrend die Hände. „Die Hefte sind pädagogisch wertvoll“, meinte ich todernst. „Dagobert und Donald. Arm gegen reich.“

      „Du bist eher wie Gustav Gans“, lachte meine Schwester. „Hast nur Glück, dass dich niemand abfragt in Englisch! Sitzt ja auch ganz hinten!“

      „Wuff!“, machte Lazy. „Danke!“, sagte ich zu ihm und gab ihm einen Klaps. „Du hältst wenigstens zu mir.“

      „Auf jeden Fall hast du jetzt ein paar Freunde mehr“, sagte Tommy. „Und gemeinsam geht alles besser. Wir werden schon dafür sorgen, dass du nicht auf diese Sonderschule musst. Das verspreche ich dir.“

      „Danke“, sagte Leon mit leiser Stimme. „Das finde ich total toll von euch. Ich hatte noch niemals jemanden, der das für mich getan hätte. Und dabei kenne ich euch doch noch gar nicht.“

      „Du wirst uns schon noch kennen lernen!“, grinste ich. In dem Moment ging die Tür auf, und meine Mutter steckte den Kopf herein.

      „Wie lange wollt ihr denn noch frühstücken? Es ist schon zwölf! Ihr solltet die Sachen lieber wieder in den Kühlschrank stellen, sonst werden sie noch schlecht.“

      Leon fuhr hoch. „Schon zwölf? Oh Mann, ich muss nach Hause! Meine Tante wird sonst sauer, dass ich zu spät zum Essen komme! Und ich muss noch eine halbe Stunde mit dem Bus fahren.“

      „Essen?“, grinste Sanne. „Du willst bei deiner Tante schon wieder essen? Du musst doch pappsatt von unserem Frühstück sein!“

      Leon stöhnte. „Bin ich auch! Aber wenn ich bei ihr nichts esse, gibt’s Ärger. Tut mir Leid, aber ich muss jetzt wirklich gehen.“

      „Schade“, meinte Sanne. „Aber sag Bescheid, wenn du dich wieder mit Janine triffst, dann kommen wir auch und machen die ganze Arbeit gemeinsam.“

      Leon erhob sich. „Ich bring noch die Sachen in den Kühlschrank, sonst kriegt ihr noch Ärger mit eurer Mutter!“

      „Nein, lass man“, sagte meine Mutter gutmütig. „Dafür hab ich hier vier kräftige Kinder. Das schaffen sie schon allein.“

      Wir verabschiedeten uns von Leon. Als er die Treppe runterstürmte, kam mir in den Sinn, dass das ein Junge war, der zu mir gepasst hätte, hätte ich nicht schon Tommy als Freund gehabt. Doch dann wurde mir klar, dass ich ganz schön eigensinnig dachte, denn warum sollte Leon nicht zu uns allen passen? Die Antwort wusste ich schon, bevor ich mir die Frage gestellt hatte. Wir waren die Vier Herzen, und die fantastischen Geheimnisse, die wir hüteten, konnten wir nicht so einfach weitergeben. Aber deswegen keine neuen Freunde gewinnen? Nein, das konnte auch nicht im Sinne der unbekannten Herrscher sein. Vielleicht konnten wir ja auch Freunde sein und mit Leon zusammen etwas unternehmen, ohne das verlassene Grundstück zu erwähnen.

      Grübelnd folgte ich den anderen zurück in mein Zimmer. Es war toll, drei so gute Freunde zu haben. Aber es hatte auch Nachteile.

      „Leon