Watchman Nee

Sitze, Wandle, Stehe


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Leib zu zählen, den Paulus die Fülle Christi nennt (1:23)? Gewiss hat uns nicht unsere Aktivität und Anstrengung zu einem Teil dieses Leibes gemacht. „Ein Leib und ein Geist, wie ihr auch berufen worden seid zu einer Hoffnung eurer Berufung“ (4:4). Der Epheserbrief zeigt uns Tatsachen. Zuerst war Jesus Christus, dann hat Gott uns in ihm vor Grundlegung der Welt erwählt (1:4). Wenn uns der Heilige Geist Christus offenbart und wir an ihn glauben, dann beginnt für uns, ohne dass wir noch etwas hinzutun müssen, sogleich ein Leben der Gemeinschaft mit ihm.

      Wenn uns nun das alles durch Glauben allein zuteil wird, wie verhält es sich dann mit unserer Heiligung, die uns ein so dringendes, praktisches Anliegen ist? Wie können wir täglich frei werden von der Macht der Sünde? Wie wird unser alter Mensch, der uns jahrelang folgte und Schwierigkeiten machte, gekreuzigt und abgelegt? Das Geheimnis liegt wiederum nicht im Wandeln, sondern im Sitzen, nicht darin, dass wir irgendetwas tun, sondern darin, dass wir in dem ruhen, was bereits vollbracht ist. Wir sind der Sünde gestorben. Wir sind in seinen Tod getauft. Wir sind mit ihm begraben. Gott hat uns mit Christus zusammen lebendig gemacht (Röm. 6:2–4; Eph. 2:5). Warum stehen alle diese Satzaussagen in der Vergangenheitsform? Weil der Herr Jesus vor nahezu zweitausend Jahren außerhalb von Jerusalem gekreuzigt wurde und ich mit ihm! Das ist eine großartige geschichtliche Tatsache! Durch sie wurde seine Erfahrung zu meiner geistlichen Geschichte, und Gott sieht mich als einen, der „mit ihm“ bereits alles hat. Alles, was ich jetzt habe, habe ich „mit Christus“. Die Schrift spricht von diesen Dingen nie, als ob sie zukünftig wären, auch nicht davon, dass wir in un­serer Zeit danach zu streben hätten. Es sind geschichtliche Tatsachen aus dem Leben Christi, in die jeder, der glaubt, eingeschlossen ist.

      „Mit Christus“ – gekreuzigt, auferstanden, aufgefahren und in die Himmelswelt versetzt. Das erscheint unserem menschlichen Verstand ebenso unglaublich, wie es für Nikodemus unvorstellbar war, dass er von neuem geboren werden sollte (Joh. 3:3). Dort ging es um die Frage der Wiedergeburt, hier aber um etwas noch viel weniger Vorstellbares, das nicht nur – wie die Wiedergeburt – in uns gewirkt werden muss, sondern das wir als unsere Wirklichkeit erkennen und annehmen dürfen, weil es uns längst in einem anderen, nämlich in Christus, erwirkt wurde. Wie ist das möglich? Es lässt sich nicht erklären. Wir sollen es von Gott annehmen als etwas, das er getan hat. Wir wurden nicht mit Christus geboren, aber wir wurden mit ihm gekreuzigt (Gal. 2:20). Somit begann unser Einssein mit ihm in seinem Tod. Gott hat uns dort in ihn eingeschlossen. Wir waren „mit ihm“, weil wir „in ihm“ waren.

      Wie aber kann ich denn gewiss sein, dass ich in Christus bin? Ganz einfach: weil es das Wort Gottes sagt und gleichzeitig bezeugt, dass es Gottes Werk war. „Aus ihm aber kommt es, dass ihr in Christus Jesus seid“ (1.Kor. 1:30). „Der uns aber mit euch befestigt in Christus …, ist Gott“ (2.Kor. 1:21). Er hat es in seiner großen Weisheit vollbracht, damit wir es erkennen, glauben, annehmen und uns darüber freuen.

      Wenn ich einen Geldschein zwischen die Seiten einer Zeitschrift lege und diese dann verbrenne, so werden beide zu Asche. Sie erleiden dasselbe Schicksal. Genauso hat Gott uns in Christus eingeschlossen. Alles, was mit ihm geschah, ist in ihm auch mit uns geschehen. „Da wir dies erkennen, dass unser alter Mensch mitgekreuzigt worden ist, damit der Leib der Sünde abgetan sei, dass wir der Sünde nicht mehr dienen“ (Röm. 6:6). Das ist keine Ermahnung, dass wir darum ringen sollen. Hier wird von ­der Geschichte gesprochen, nämlich unserer Geschichte, die in Christus geschrieben wurde, ehe wir geboren waren. Glaubt ihr das? Das ist die Wahrheit! Dass wir mit Christus gekreuzigt sind, ist eine herrliche geschichtliche Tatsache. Unsere Befreiung von der Sünde beruht nicht auf dem, was wir tun können, auch nicht auf dem, was Gott für uns tun wird, sondern einzig und allein darauf, was er in Christus bereits für uns getan hat. Wenn uns diese Tatsache aufgeht und wir uns darauf stützen (Röm. 6:11), dann haben wir das Geheimnis eines heiligen Lebens entdeckt.

      Doch leider müssen wir alle bekennen, dass dies noch viel zu wenig unsere Erfahrung ist. Wie reagierst du z. B. darauf, wenn jemand in deiner Gegenwart eine unfreundliche Bemerkung über dich macht? Du presst die Lippen zusammen und versuchst, den Ärger zu unterdrücken, und reißt dich zusammen. Und wenn dir mit großer Mühe gelingt, deine Verstimmung zu verbergen und einigermaßen höflich zu bleiben, dann glaubst du, einen großen Sieg errungen zu haben. Doch der Ärger bleibt und nicht immer kannst du ihn verbergen. Etwas scheint nicht zu stimmen, aber was? Du versuchst zu wandeln, bevor du dich gesetzt hast, und das ist der sichere Weg zur Niederlage. Ich möchte daher noch einmal wiederholen, dass keine Glaubenserfahrung mit Wandeln beginnt, sondern mit einem entschiedenen Sich-Setzen. Das Geheimnis der Befreiung von der Sünde liegt nicht in unserem Kampf gegen die Sünde, sondern darin, dass wir in dem ruhen, was Gott getan hat.

      Ein Ingenieur kehrte nach einem mehrjährigen Auslandsaufenthalt in seine Heimat zurück und entdeckte, dass seine Frau ihn während seiner Abwesenheit mit einem seiner besten Freunde betrogen hatte. Er hatte seine Frau, seine beiden Kinder und seinen Freund verloren. Nach einer von mir geleiteten Versammlung kam der geschlagene Mann zu mir und klagte mir seine ganze Not: „Seit zwei Jahren ist mein Herz Tag und Nacht mit Hass erfüllt. Ich bin Christ und weiß, dass ich meiner Frau und meinem Freund vergeben sollte; aber obwohl ich es immer wieder versuche, gelingt es mir einfach nicht. Jeden Tag nehme ich mir aufs Neue vor, sie zu lieben, und immer wieder versage ich. Was soll ich tun?“ – „Nichts sollst du tun“, erwiderte ich. „Wie meinst du das?“, fragte er erstaunt. „Soll ich sie weiter hassen?“

      Da erklärte ich ihm: „Die Lösung deines Problems ist die, dass der Herr Jesus, als er am Kreuz starb, nicht nur deine Sünden hinwegtrug, sondern auch dich selbst. Dein alter Mensch, der nicht vergeben kann, ist mit Christus gekreuzigt. Gott hat dein gegenwärtiges Problem schon am Kreuz gelöst und du hast nichts mehr zur Lösung beizutragen. Sage ihm darum einfach: „Herr, ich kann nicht lieben und will es auch gar nicht versuchen, aber ich vertraue deiner vollkommenen Liebe. Ich kann nicht vergeben, aber ich vertraue darauf, dass du statt meiner vergibst und du auch weiterhin in mir wirken wirst.“

      Der Mann war zutiefst erstaunt und sagte: „Das ist alles so neu für mich, ich muss doch auch etwas dazu tun“. Nach einem Augenblick fügte er hinzu: „Aber was kann ich tun?“ – „Gott wartet, bis du aufgehört hast, etwas zu tun. Das Ende deiner Aktivität ist der Anfang von Gottes Handeln“, sagte ich. „Hast du schon einmal versucht, einen Ertrinkenden zu retten? Aus lauter Angst kann er sich dir nicht überlassen. Es gibt daher nur zwei Rettungsmöglichkeiten: Entweder du musst ihn bewusstlos machen und so ans Ufer bringen oder ihn zappeln und schreien lassen, bis seine Kräfte erlahmen und du ihm zu Hilfe kommen kannst. Willst du ihn retten, solange er noch bei Kräften ist, wird er sich in seiner Angst an dich klammern und dich mit in die Tiefe ziehen und ihr beide seid verloren. Gott wartet, bis deine Kraft völlig erschöpft ist, erst dann kann er dich befreien. Gott wartet darauf, dass du aufgibst. Sobald du aufhörst, dich abzumühen, tut er alles.“

      Der Ingenieur sprang auf: „Bruder, jetzt begreife ich, wie das gemeint ist! Gott sei gelobt, jetzt ist es mir klar. Ich muss nichts tun, er hat alles schon getan!“ Und voller Freude verließ er mich.

      Unter allen Gleichnissen in den Evangelien zeigt meiner Ansicht nach das vom verlorenen Sohn am treffendsten, worüber sich Gott freut. Der Vater sagt dort: „Aber man musste doch jetzt fröhlich sein und sich freuen!“ (Luk. 15:32). Mit diesen Worten offenbart uns Jesus, was im Zusammenhang mit der Erlösung seines Vaters Herz am meisten erfreut. Es ist nicht der ältere Bruder, der sich unablässig für den Vater abmüht, sondern der jüngere, der den Vater alles für sich tun lässt. Es ist nicht der immer geben wollende ältere Sohn, sondern der immer zu empfangen bereite jüngere Bruder. Als dieser heimkehrte, nachdem er all sein Gut in einem ausschweifenden Leben verprasst hatte, tadelte ihn der Vater keineswegs wegen all der Verschwendung, noch wollte er wissen, wo sein Gut geblieben war. Er trauerte dem verlorenen Gut nicht nach, sondern freute sich über die Gelegenheit, aus Anlass der Rückkehr des Sohnes nun noch mehr für ihn verschwenden zu können.

      Gott ist so reich, dass seine größte Freude darin besteht, zu geben. Seine Schatzkammern sind so voll, dass es ihn schmerzt, wenn wir ihm keine Gelegenheit geben, uns mit diesen Schätzen zu überschütten. Der Vater freute sich, im verlorenen Sohn einen