Emile Zola

Lourdes


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und man hörte nur das Rasseln der Räder, das Rütteln des Zuges, der durch die tiefschwarze Nacht dahin rollte.

      Pierre konnte nicht schlafen. Neben ihm schnarchte Herr von Guersaint und lächelte glückselig trotz der harten Bank. Lange hatte der junge Priester Mariens Augen weit geöffnet gesehen, erfüllt von dem Glänze der Wunder, die er soeben erzählt hatte. Ihre Blicke ruhten heiß auf ihm. Dann hatte sie ihre Augen geschlossen und er wußte nicht, ob sie schlief oder ob sie bei geschlossenen Augenlidern das Wunder noch einmal an ihrem Geist vorüberziehen ließ. Viele von den Kranken träumten laut. Bald lachten sie, bald stießen sie, ohne es zu wissen, Klagen aus. Vielleicht sahen sie, wie die Erzengel in ihr Fleisch schnitten, um ihr Übel herauszureißen. Andere waren von Schlaflosigkeit gequält. Sie warfen sich hin und her, seufzten tief und schwer und starrten unverwandt in das Halbdunkel. Pierre, der sich in großer Aufregung befand, verwünschte schließlich seine Vernunft und war entschlossen zu glauben. Was hatte die physiologische Untersuchung über Bernadette, die so verwickelt und so voller Lücken war, für einen Zweck? Warum wollte er sie denn nicht für eine Auserwählte des göttlichen Unbekannten ansehen? Die Ärzte waren Stümper mit rohen Händen, während es herrlich sein mußte, in dem Glauben der Kinder, in dem Zaubergarten des Unmöglichen einzuschlummern. Er versuchte nicht mehr, sich etwas zu erklären, und nahm die Seherin, wie sie war, mit all ihrem überreichen Gefolge von Wundern und überließ es dem lieben Gott, für ihn zu denken und an seiner Stelle zu wollen. Er blickte durch das Fenster hinaus, das man der Schwindsüchtigen wegen nicht zu öffnen gewagt hatte. Er sah in die tiefe Nacht, die sich auf die Gefilde herabgesenkt hatte, durch die der Zug raste. Der nächtliche Himmel war von einer wunderbaren Reinheit. Helle Sterne funkelten auf dunklem Samt und beleuchteten mit ihrem geheimnisvollen Lichte die stummen Gefilde. Durch die Heiden, durch die Täler und an den Hügeln vorüber rollte der Zug voller Elend und Leiden weiter und weiter, überheiß und verpestet, bejammernswert, inmitten der Reinheit dieser hehren, so schönen und süßen Nacht.

      Um ein Uhr morgens hatte man Riscle passiert. Tiefes Stillschweigen herrschte, das nur von den regelmäßigen Stößen der Wagen und von den gelegentlichen Seufzern eines Kranken unterbrochen wurde. Um zwei Uhr in Vic de Bigorre begann dumpfes Stöhnen und Klagen, der schlechte Zustand der Bahn verursachte den Kranken viele Beschwerden. In Tarbes endlich unterbrach man um zwei und ein halb Uhr das Stillschweigen. Man sprach die Morgengebete, obgleich es noch vollständig Nacht war. Das Vaterunser, das Ave und das Credo wurden gebetet und Gott angefleht um das Glück eines ruhmwürdigen Tages. O mein Gott! Gib mir genug Kraft, auf daß ich alles Schlimme vermeiden, alles Gute ausüben und alle Schmerzen ertragen kann!

      Jetzt wurde nicht wieder angehalten als in Lourdes selbst. Noch dreiviertel Stunden, und Lourdes zeigte sich, mit seinem hoffnungsreichen Glanze in die lange und bange Nacht hinausstrahlend. Beim Erwachen bemächtigte sich aller eine heftige Aufregung. Die Leiden begannen von neuem.

      Besonders beunruhigte sich Schwester Hyacinthe des fremden Mannes wegen. Er hatte bis jetzt noch gelebt. Sie war bei ihm geblieben, ohne einen Augenblick die Lider zu schließen. Auf den leisesten Atemzug hatte sie aufgepaßt, da es ihr sehnlichster Wunsch war, ihn wenigstens noch lebend nach Lourdes zu bringen.

      Plötzlich bekam sie Angst und wandte sich daher an Frau von Jonquière mit den Worten:

      »Ich bitte Sie, reichen Sie mir rasch die Flasche mit dem Weinessig herüber ... Ich höre ihn gar nicht mehr atmen.«

      In der Tat hatte der Mann seit einem Augenblick sein leises Atmen ganz eingestellt. Seine Augen waren immer fest geschlossen und sein Mund halb geöffnet. Seine Blässe aber hatte nicht zunehmen können. Er war kalt und sein Gesicht von der Farbe der Asche.

      »Ich werde ihm die Schläfen reiben«, begann die Schwester von neuem. »Bitte, helfen Sie mir.«

      Plötzlich fiel der Mann bei einem heftigen Stoße des Wagens mit dem Gesicht nach vorn.

      »O mein Gott! Helfen Sie mir doch, richten Sie ihn doch wieder in die Höhe!«

      Man richtete ihn wieder empor. Er war tot. Man mußte ihn in eine Ecke zurücksetzen und seinen Rücken gegen die Scheidewand lehnen. Er blieb sitzen, sein Körper war schon steif geworden, nur der Kopf wackelte noch etwas bei jedem Stoße. Der Zug raste weiter, während die Lokomotive gellende Pfiffe ausstieß, die wie ohrenzerreißende Fanfaren durch die Stille der Nacht hallten.

      Eine nicht enden wollende halbe Stunde in Gesellschaft des Toten folgte, und dann war die weite Reise zu Ende. Dicke Tränen waren über die Wangen der Schwester Hyacinthe herabgerollt. Dann hatte sie die Hände gefaltet und zu beten angefangen. Der ganze Wagen zitterte vor Entsetzen über diesen schrecklichen Gefährten, den man zu spät zur Heiligen Jungfrau brachte. Aber die Hoffnung war stärker als der Schrecken, der Jubelgesang ertönte nicht weniger laut bei dem Einzug in das Land des Wunders. Die Kranken stimmten unter Tränen, die ihnen ihre Schmerzen auspreßten, das Ave Maria Stella an. Ihr Schmerzensschrei nahm zu, bis sich die Klagen in Hoffnungsschreie auflösten.

      Marie hatte die Hand Pierres wieder zwischen ihre kleinen, fieberheißen Finger genommen.

      »O mein Gott! Nun ist der Mann gestorben, und ich fürchtete so sehr, sterben zu müssen, bevor wir das Ziel erreichten ... Aber jetzt sind wir da, jetzt sind wir endlich da!«

      Der junge Priester zitterte vor tiefer Ergriffenheit.

      »Sie müssen geheilt werden, Marie, und auch ich werde wieder genesen, wenn Sie für mich beten.«

      Die Lokomotive ließ einen gellenden Pfiff durch die blaue Finsternis erschallen. Man hatte das Ziel erreicht, die Lichter von Lourdes erglänzten am Horizont, und der ganze Zug sang die Geschichte der Bernadette, ein endloses Klagelied, in dem der englische Gruß als Refrain wiederkehrte, ein Gesang, der den Himmel der Verzückung öffnete.

Zweiter Tag

       I

      Die Bahnhofsuhr zeigte drei Uhr zwanzig Minuten. Unter dem Schutzdach, das in einer Länge von ungefähr hundert Metern den Bahnsteig bedeckte, kamen und gingen Schatten in geduldiger Erwartung des Zuges. Weit draußen sah man in dem dunklen Gefilde ein rotes Signalfeuer blinken.

      Zwei auf und ab wandelnde Männer blieben stehen. Der größere von ihnen, der ehrwürdige Pater Fourcade, Direktor der nationalen Pilgerfahrt, der schon am vorhergehenden Tage eingetroffen war, war ein Mann von sechzig Jahren. Sein schöner Kopf mit klaren, gebieterischen Augen und einem dichten, ergrauten Barte glich dem eines Feldherrn, aus dem das Siegesbewußtsein spricht. Er schleppte das eine Bein etwas nach, da er an der Gicht litt, und stützte sich auf die Schulter seines Begleiters, des Doktor Bonamy, der als Arzt bei dem Büro zur Feststellung der Wunder angestellt war, eines untersetzten, stämmigen Mannes mit einem breiten, rasierten Gesicht und ruhigen, etwas groben Zügen.

      Pater Fourcade hatte den Bahnhofsvorstand, der mit raschen Schritten aus seinem Büro herausgetreten war, gefragt:

      »Hat der weiße Zug viel Verspätung?«

      »Nein, ehrwürdiger Vater, höchstens zehn Minuten. Er wird in einer halben Stunde hier sein ... Was mich aber beunruhigt, das ist der von Bayonne kommende Eilzug, der schon durchgefahren sein müßte.«

      Er eilte fort, um einen Befehl zu erteilen. Dann kam er wieder zurück, ganz abgehetzt von der Aufregung, die ihn zur Zeit der Pilgerfahrten am Tage und bei der Nacht auf den Beinen hielt. Heute erwartete er, abgesehen von seinem gewöhnlichen Dienste, achtzehn Züge mit mehr als fünfzehntausend Reisenden. Die zuerst von Paris abgefahrenen Züge, der graue und der blaue, waren zur vorschriftsmäßigen Stunde eingetroffen. Die Verspätung des weißen Zuges war um so unangenehmer, als auch der Expreßzug aus Bayonne noch nicht angemeldet war. Man begriff die Aufregung, in der das Bahnpersonal lebte.

      »Zehn Minuten also?« wiederholte Pater Fourcade.

      »Ja, zehn Minuten, wenn wir nicht genötigt sind, die Strecke zu sperren«, rief der Bahnhofsvorstand, der nach dem Telegraphenbüro eilte.

      Der Mönch und der Arzt nahmen ihren Spaziergang wieder auf. Sie waren mit Recht erstaunt, daß