Lars Burkart

Die letzte Seele


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Paul lachte ohne jegliche Hemmungen, und er hörte erst auf, als jemand hinter ihm unwirsch stöhnte. Da es aber nur ein verschlafenes Stöhnen war, machte er weiter. Irgendwann dann hatte er davon genug. Es kündigte sich bereits ein leichter Kopfschmerz an, und er erhob sich schwerfällig. Das war alles andere als leicht, weil er ziemlich betrunken war und der blöde Sessel partout nicht stehenbleiben wollte. Nach einigem Hin und Her, bei dem er es auch nicht versäumte, dem Sessel ein „Sitz!“ zu befehlen, gelang es ihm schließlich.

      Den Frechdachs von Sessel zu besiegen, war aber nur die halbe Miete. Paul stand noch einiges bevor. Auf wackligen Beinen stolperte er durchs Zimmer. Er kam sich fremd vor, wie ein Einbrecher. Alles um ihn herum lag in tiefem Schlaf, und er tappte durch eine fremde Wohnung. Ein Einbrecher machte es nicht anders. Der Gedanke war so absurd und gleichzeitig so komisch, dass er schon wieder zu lachen begann. Diesmal um einiges lauter. Lange würde es nicht mehr dauern, bis er die ersten aus ihrem Delirium riss. Zum Glück gab es ein totsicheres Mittelchen dagegen: Er biss sich auf die Lippe, und der Schmerz trieb ihm sein Gelächter schnell wieder aus.

      Nachdem er sich etwas gefangen hatte, trottete er weiter. Er wusste nicht recht, was er vorhatte, war sich gleichzeitig aber auch nicht sicher, ob er das überhaupt wissen wollte. Langsam schlich er an den Sessel, auf dem Jerome schnarchte und stapfte mit hängenden Schultern an ihm vorbei wie Quasimodo, der Glöckner von Notre Dame. Einen Moment dachte er, es sei sein schlechtes Gewissen, das ihn verleitete, krumm zu gehen, dann merkte er, es lag am Suff.

      Was habe ich vor? Warum schleiche ich hier wie ein Dieb in der Nacht rum? Und warum zum Teufel werde ich das Gefühl nicht los, dass es mir kein bisschen gefallen wird? Pauls Unbehagen wuchs mit jeder Sekunde. Vielleicht war es ja doch so etwas wie ein schlechtes Gewissen. Wer konnte das so genau sagen?

      Schließlich trugen seine Füße ihn zur Hausbar. Sein Erstaunen darüber wich schnell Erleichterung. Im Gedanken hatte er sich schon bei etwas weitaus Schlimmerem gesehen. Er war überzeugt davon gewesen, den Safe plündern zu wollen. Oder, was noch schlimmer gewesen wäre, er hatte sich selbst gesehen, wie er mit Benzinkanister und Streichhölzern bewaffnet irre gackernd durch die Bude rannte. Und er hatte sich mit Jeromes Ferrari auf einen Baum zurasen sehen. Das alles wäre katastrophal gewesen; wenn es dabei blieb, die Hausbar zu plündern, konnte er das gerade noch mit seinem Gewissen vereinbaren. Und während er das noch dachte, griff er schon wie ein Schiffbrüchiger nach allem, was ihm in die Finger kam und stürzte torkelnd damit aus dem Haus.

      Das Ergebnis seines Raubzuges konnte sich sehen lassen. Es war so viel, dass es an ein Wunder grenzte, dass er nicht vornüber fiel. In den Händen hielt er eine Schachtel kubanische Zigarren, drei Flaschen edelsten Whiskey und zu guter Letzt noch zwei Flaschen Rum. Ein beachtlicher Fang.

      Paul entriegelte die Tür an seinem Wagen, warf alles nach hinten auf den Notsitz, hüpfte hinein und startete.

      Keine fünf Minuten später fuhr er lachend durch die Dunkelheit. Sein Gelächter klang hysterisch und es war so laut, dass es sogar den Motor übertönte. Er hatte echt eine Menge gebechert, aber seltsamerweise war von seinem Rausch nicht mehr allzu viel übrig. Jedenfalls empfand er es so. Er fühlte sich so nüchtern wie seit Tagen nicht mehr. Nicht nur das versetzte ihn in Euphorie – es kam auch noch hinzu, dass er sich fühlte, als könne er mit bloßen Händen Bäume ausreißen. Glatt zwanzig Jahre jünger. Ein geiles Gefühl.

      Irgendwo tief in seinem Inneren wusste ein verborgener Teil von ihm (sagen wir einfach, sein rationales Denken, okay?), dass er keineswegs nüchtern war, sondern sternhagelvoll. Und dieser tief verborgene Teil wusste auch, dass eine Menge schiefgehen kann, wenn man in diesem Zustand den Fehler beging, ein Fahrzeug zu lenken. Dieser niedliche, klitzekleine Teil hätte am liebsten laut gekreischt – wie eine Frau, der eine Spinne mit langen, eklig behaarten Beinen über den Weg läuft. Da dieser Teil nun aber nur ein niedliches kleines Bürschchen war, vollbrachte er nur ein Flüstern. Schließlich musste er gegen eine nicht unerhebliche Menge Rauschmittel und gegen fast ebenso viele körpereigene Endorphine ankämpfen, und das war für den kleinen Racker einfach zu viel. Egal, was er auch versuchte, um auf sich aufmerksam zu machen: Es reichte nicht, um bis zu Pauls Verstand durchzudringen. Was zu ihm durchkam, war nur die verräterische Stimme des Leichtsinns. Sie sprach so deutlich zu ihm, als säße sie auf seinen Schultern: Gib ruhig noch etwas mehr Gas! Los, komm schon! Oder traust du dich etwa nicht?

      Und ob Paul sich traute! Er packte das Lenkrad noch fester, klemmte die Whiskeyflasche zwischen die Oberschenkel und gab Vollgas.

      Wie ein Hurrikan sauste der Porsche durch die Dunkelheit. Die Geschwindigkeit wäre schon im nüchternen Zustand grob fahrlässig gewesen, da er aber alles andere als nüchtern war, war es mehr als nur wahnsinnig. Es war selbstmörderisch. Seine Reaktionen und Bewegungsabläufe waren beängstigend langsam. Um die Flasche an seinen Mund zu führen, brauchte er sagenhafte fünfundzwanzig Sekunden. Aber sein Zustand hatte trotz allem einen Vorteil: Er verschwendete weder an Jeannine noch an Jerome einen Gedanken. Einen kurzen Moment fragte er sich, wie er reagieren würde, wenn er sah, was Paul hatte mitgehen lassen. Aber das dachte er nur kurz, bevor er losgefahren war. Jetzt war auch das in weite Ferne gerückt.

      Der Porsche schoss wie ein Pfeil durch die Nacht und dröhnte und fauchte wie ein Jet. Gar kein so ungewöhnliches Geräusch, wenn nicht ständig das Getriebe aufgeschrien hätte, weil er beim Gangwechsel das Kuppeln vergessen hatte. Paul litt beinahe mit dem Getriebe mit und nahm sich fest vor, es beim nächsten Mal bestimmt zu tun. Aber als es dann soweit war, war der gute Vorsatz vergessen und das Getriebe kreischte und knirschte, als hätte es Sand als Schmiermittel.

      Mit einem Mal wurde es schwarz und still um ihn herum. Die Dunkelheit und Stille kamen so plötzlich, dass er erst gar nicht bemerkte, was da vorging. Als wäre er in eine andere Dimension gewechselt. Alles verschwand. Nichts war mehr da.

      Schläfrig blinzelte Paul. Alles um ihn herum war grell, als säße er direkt neben der Sonne. Etwas war ganz und gar nicht so, wie es hätte sein sollen. Aber im Moment bemerkte er davon noch nichts. Er spürte nur einen ungeheuren Druck auf seinem Körper lasten, ohne zu wissen, woher er kam.

      Paul schloss die Augen wieder; es war zu grell. Die gleißende Helligkeit drang sogar durch seine Lider. Es war so hell, dass er befürchtete zu erblinden.

      Der Druck verstärkte sich noch etwas, aber ohne seine Herkunft preiszugeben. Ihm wurde immer unheimlicher zumute. Nur ein klein wenig stärker, und ich werde zerquetscht wie ein Insekt! Lag er? Saß er? Oder stand er? All das entzog sich seiner Kenntnis. Und das ängstigte ihn so, dass er zitterte wie ein Kind in der Dunkelheit. Paul hatte noch nie zuvor solche Angst gehabt – und seien wir mal ehrlich: Es war auch verständlich. Schließlich weiß man immer, was man gerade tut. Ob man jetzt sitzt, liegt oder steht, man weiß es einfach. Es sei denn …

      Es sei denn, man ist tot.

      War er das vielleicht? War er gestorben?

      Seine Gedanken geisterten fieberhaft umher. Ist das möglich? Ist das möglich? He, du Idiot! Wann willst du denn deiner Meinung nach gestorben sein? Glaubst du nicht auch, dass du das bemerkt hättest? Aber ein anderer Teil seines Verstandes meinte: Was soll ich denn bemerkt haben? Denkst du etwa, der Tod kommt mit Pauken und Trompeten, um einen zu holen? Nein, der kommt lautlos und auf schnellen Sohlen, verrichtet sein Geschäft und zieht weiter zur nächsten bemitleidenswerten Seele, deren Zeit abgelaufen ist! So sieht’s aus, Alter, so und nicht anders! Also, was bitteschön, soll ich bemerkt haben?

      Wie lange sann er nun schon darüber nach? Waren es Sekunden? Waren es Tage oder sogar schon Jahrhunderte? Ihm kam es vor wie ein paar Sekunden. Aber konnte er sich dessen sicher sein? Vergeht die Zeit, wenn man tot ist (vorausgesetzt natürlich, es gibt dann noch so was wie Zeit) schneller? Oder langsamer? Niemand kann das beantworten. Die, denen es möglich wäre, schweigen, denn als Leiche schwätzt man bekanntlich nicht viel.

      Entgegen aller widrigen Umstände amüsierte ihn diese Vorstellung. In seiner Phantasie sah er sich in einem Eichensarg liegen, stilvoll gekleidet: schwarze, bis zur Perfektion geputzte Schuhe, in denen er sich hätte spiegeln können, tadellos gebügelter Anzug ohne kleinste Falte, und natürlich eine schwarze Krawatte. Wie sie sich mit dem Anzug vertrug! Eine Wucht. Sogar das streng nach hinten gekämmte Haar versprühte