Dagny Kraas

Dämonentreue


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Schritte führten ihn bis zu der Stelle, wo die schwarzen Wasser des Sumpfes begannen. Dort blieb er stehen, legte den Kopf in den Nacken und sah in den Abendhimmel. Unzählige Sterne leuchteten über ihm; Sterne, die er seit seiner Kindheit kannte, und die hier doch anders aussahen als zu Hause.

      Konnte es wahr sein?

      Fast elf Jahre lang hatte er auf diesen Moment gewartet, hatte ihn herbeigesehnt, obwohl er sich selbst zu hoffen verboten hatte – und mit einem Mal hatte er Angst.

      Skatarhak ist tot, hallten die Worte in ihm wider. Ebenso tot wie jeder T'han T'hau, der noch auf Gantuigh lebte.

      Jeder T'han T'hau. Jeder, den er gekannt hatte, angefangen mit Skatarhak, aber auch Rothmar, seine eigenen Eltern Kakey und Anthro'kar, seine Familie… seine Ziehschwestern Inth Silia und Marud'shat, ihre Mutter Ruhara, die weise Großmutter Khal'atra, sein Bruder Guthrag…

      Sie alle waren tot.

      Und was, wenn es auf Gantuigh wirklich keine T'han T'hau mehr gab? Waren sie, hier in diesem trostlosen Moor, dann die letzten? Waren sie die Überbleibsel ihres stolzen Volkes?

      Was würde geschehen, wenn sie Sureths Ruf folgten? Was würde geschehen, wenn sie es nicht taten? War es ihre Möglichkeit heimzukehren? War es eine Falle? Was würde sie auf Gantuigh erwarten?

      Leise Schritte näherten sich ihm, und dann trat Tiko neben ihn und sah wie er in den Himmel hinauf. Nach einer Weile lachte er halblaut.

      »Wenn mir heute morgen jemand gesagt hätte, dass mein ficha'thar vor ein paar geschriebenen Worten Angst hat, hätte ich ihn höhnisch ausgelacht. Aber hier stehe ich neben dem mächtigsten T'han T'hau aller Zeiten und spüre, wie er innerlich vor Furcht zittert. Was macht dir solche Angst?«

      Cridan antwortete nicht auf seine Frage.

      Statt dessen gab er zurück: »Und wenn es eine Falle ist?«

      Tiko wandte den Kopf und sah ihn scharf an.

      »Dann ist es eben eine Falle! Warum machst du dir darüber Sorgen? Wir haben doch nichts zu verlieren! Das hier«, er machte eine weit ausholende Geste, die ihre Siedlung und das Moor einschloss, »ist kein Leben für einen T'han T'hau! Unsere Kinder werden nicht mehr wissen, was es bedeutet, ein T'han T'hau zu sein! Dieses Leben besteht bloß aus Verstecken und dem verzweifelten Versuch, zu überleben. Das ist nicht das Leben eines T'han T'hau! Glaubst du, ich weiß nicht, wie dir zumute ist? Glaubst du, ich sehe es nicht?«

      Er stieß einen verächtlichen Laut aus. »Cridan, wir sind zusammen aufgewachsen! Du stehst mir näher als jeder andere, und das gewiss nicht nur, weil du mein verdammter ficha'thar bist! Jeden Tag lebe ich mit der Angst, dass du nicht mehr aus dem Sumpf zurückkommst. Nicht weil dir etwas passiert, sondern weil du es nicht mehr willst!«

      Cridan erwiderte seinen Blick.

      »Das würde ich nie tun«, entgegnete er. »Ich bin dein ficha'thar! Mehr noch, ich habe versprochen, dich zu beschützen. Was immer es mich auch kosten mag, ich bleibe an deiner Seite. Skatarhak ist tot. Du bist mein König, und ich folge dir, wohin du auch gehen magst. Mein Leben ist dein.«

      Tiko schüttelte verärgert den Kopf.

      »Nein, Cridan! Ich habe es dir schon so oft gesagt: Dein Leben gehört dir. Ich will es nicht! Du warst lange genug Sklave deines Eides, jetzt sollst du frei sein! Du bist nur deshalb mein ficha'thar, weil jeder König einen braucht.«

      »Und weil du mich brauchst«, stellte Cridan nicht ohne Genugtuung fest.

      »Und weil ich dich brauche«, nickte Tiko lächelnd. »Weshalb zögerst du dann noch? Folgen wir Sureths Einladung! Vielleicht ist es tatsächlich an der Zeit, dass die letzten T'han T'hau nach Gantuigh zurückkehren. Ganz sicher aber ist es Zeit, dass du nach Gantuigh zurückkehrst. Du wirst mich begleiten. Mert will zwar, dass wir alle mit ihm gehen, doch so dumm bin ich nicht. Wir werden erst sehen, ob Sureth die Wahrheit spricht. Wenn es so ist, wird der Rest uns mit der Wellenstolz und den anderen Schiffen folgen.«

      Eine Weile standen sie schweigend nebeneinander. In Cridan stritten die Gefühle, doch schließlich gab er sich einen Ruck und nickte.

      »So sei es. Wir gehen nach Gantuigh.«

      In dieser Nacht fand Cridan keinen Schlaf.

      Irgendwann gab er es auf, sich im Bett herumzuwälzen, und stand auf. Leise stahl er sich aus der Siedlung und wanderte ziellos durch das dunkle Moor, bis er an den Ufern des Nebelwassers stand, das die Sümpfe nach Süden begrenzte. Irgendwo dort, hinter dem Nebel, lag der Rest des großen Kontinents, und noch viel, viel weiter dahinter war seine Heimat.

      Cridan sank auf die Knie nieder, ignorierte Schlamm und Wasser, die in seine Stiefel und Hosen drangen, zog sein Schwert und hielt es mit beiden Händen senkrecht vor die Brust. Das Sternenlicht funkelte auf der Klinge und ließ sie matt glänzen.

      Er legte die Stirn an das kühle Metall und schloss die Augen.

      Tief in sich spürte er noch immer die Angst, doch da war auch etwas Neues.

      Hoffnung.

      »Gantuigh«, flüsterte er leise.

      Und dann packte es ihn: Er sprang auf die Füße und riss das Schwert in die Höhe, während sich ein Brüllen aus seiner Kehle löste, das weit über das Moor hallte:

      »Gantuigh!«

      2. Kapitel – Aufbruch nach Gantuigh

      Ich kehre heim, hämmerte es unentwegt in seinem Kopf, als er mit seinem Bündel auf dem Rücken hinter Mert her ging, ebenso wie: Sie sind alle tot. Wir werden die einzigen T'han T'hau auf Gantuigh sein. Alle anderen sind tot.

      Unzählige Gefühle stritten in ihm, während er die starre, ausdruckslose Maske des ficha'thar aufgesetzt hatte. Da war immer noch ein Rest Furcht, dann Unsicherheit, aber auch Zorn über die vergangenen Jahre; Betroffenheit und eine dumpfe Trauer, wenn er an Skatarhak und das Schicksal der T'han T'hau dachte, die mit ihm in den Krieg gezogen waren; Entschlossenheit – er würde nach Gantuigh zurückkehren oder sterben, eine andere Wahl gab es für ihn nicht mehr; Sehnsucht und Hoffnung, die in der vergangenen Nacht immer größer geworden waren; und noch so viele andere, die er nicht benennen konnte.

      Die Finger seiner rechten Hand tasteten nach dem Schwertgriff und schlossen sich darum. Die Berührung des Metalls in seiner Handfläche beruhigte ihn sofort.

      Er war ein T'han T'hau – was hatte er zu fürchten?

      Der Tod schreckte ihn nicht. Er war seit je her sein Weggefährte, und er hatte ihm bereits zweimal geradewegs ins Auge geblickt: als er vor mehr als zwanzig Jahren in einen Hinterhalt getappt war, und bei ihrem Aufbruch aus Gantuigh, als das Wundfieber ihn fast umgebracht hätte.

      Sein Schwert, seinen Stolz und seine Würde – mehr brauchte er nicht, und wenn er in den vergangenen Jahren häufig genug das Gefühl gehabt hatte, letztgenannte verloren zu haben, so spürte er sie heute deutlicher denn je. Ungeachtet des Schlammes, der bizarre Muster auf seinem Schuppenkleid bildete, war er der gewaltigste T'han T'hau, den diese Welt je gesehen hatte.

      Tiko holte mit zwei raschen Schritten auf und ging neben ihm her.

      »Täusche ich mich oder bist du noch größer geworden?« fragte er mit einem Lächeln. »Manchmal vergesse ich, was für ein Gigant du bist. Und in Momenten wie diesen sehe ich dich an und weiß, dass noch jede Handbreit von dir mehr T'han T'hau enthält als so mancher ganze Mann.«

      Cridan sah auf seinen Freund hinunter und lächelte zurück.

      »Du hast Recht. Ich musste den T'han T'hau nur wiederfinden. Er hatte sich wohl im Moor verlaufen.«

      Tiko lachte.

      »Dann sieh zu, dass du ihn nicht noch einmal verlierst!«

      Sie überquerten die Nebelwasser auf einem Floß. Cridan stand aufrecht am Heck und stakte sie durch die unheimliche Landschaft, in der