Dominic D. Kaltenbach

SCHNELL, ERBARMUNGSLOS, RELATIV: DIE ZEIT


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und Postmoderne hin und her getauscht werden könnten, sie fanden in der Psyche des heutigen Menschen auch ein dominierendes Relikt, das als Hinterlassenschaft der vormetallischen Zeit eingestuft wird. Wie Manfred Dworschak berichtet, zeigte bei einem Experiment auch der selbstsicherste, abgeklärteste Atheist ausgeprägte Stresssymptome, wenn er sich verbal mit der Gottheit anlegen sollte, die seiner bekundeten Überzeugung nach gar nicht existiert.

      Das Paradies im „Hier“ und „Jetzt“ scheint es also für den Menschen nie gegeben zu haben. Der neidvolle Blick des hochtechnisierten Wissenschaftsmenschen auf die unwissenden Vorfahren, die ein ruhiges, gedankenloses Leben führen durften, beruht jedenfalls auf einer überheblichen Fehleinschätzung. Kurioserweise finden sich jedoch auch Ansätze einer rückschrittlichen geistigen Entwicklungslinie. In einigen kulturellen Artefakten scheinen Informationen hinterlassen worden zu sein, die das heutige Wissen über den Mikro- und Makrokosmos der Lächerlichkeit preisgeben. In den ersten Hochkulturen müssen die Menschen offensichtlich in der Lage gewesen sein, den Lauf der Geschichte mit allen zukünftig auftretenden Katastrophen bis zum Untergang vorherzusehen. Wenn der aufgeklärte Mensch nur in der Lage wäre, die an ihn adressierten, steinernen Hinweise zu deuten, könnte er sich planend auf das Bevorstehende vorbereiten.

      Bis dahin kann sich der Mensch zumindest darauf einstellen, neue Felder seiner Exklusivität suchen zu müssen. Noch Mitte des letzten Jahrhunderts musste sich die philosophische Anthropologie nicht besonders anstrengen, um das irdische Glanzstück von der Tierwelt abzugrenzen. Ohne jegliches Abstraktionsvermögen sind die animalischen Erdenbewohner nun einmal dem Augenblick ausgeliefert. Die Beratungsliteraten wittern bereits das Geschäft und sichern sich die Urheberrechte der Reihe: „Werde zum Tier!“ Nur der Mensch kann, so der Philosoph Hans-Eduard Hengstenberg (1904 bis 1998), Beständigkeit erkennen und ein Gegenstandsbewusstsein entwickeln. Diese Fähigkeit ist die Grundvoraussetzung für das rein menschliche Selbstbewusstsein, das mit anderen Worten nichts anderes als die Überzeugung eines unveränderlichen Ich ist. Während dieser anthropologischen Selbstbeweihräucherung stellte sich anderenorts ein Elefant vor einen Spiegel und wunderte sich über einen vorher nicht da gewesenen hellen Klecks an seinem Hinterteil. Wie der Psychologe Marc Wittmann berichtet, ließ er sich dabei auch nicht von den Verlockungen des bereitliegenden Fressens ablenken. Er wusste schließlich, dass es später ohnehin noch etwas Wohlschmeckenderes geben wird.

      Was bislang jedoch als rein menschliches Verhalten gelten kann, ist der Totenkult. Wie der französische Arzt, Biologe und Anthropologe Jacques Ruffié (1921 bis 2004) feststellt, verbringt kein anderes Lebewesen seine ihm auf Erden gegebene Zeit damit, sich ein Grab zu bauen. Zwar ging man zwischenzeitlich davon aus, dass der bereits erwähnte Elefant ebenfalls um sein nahendes Ende weiß und sich bei Zeiten auf den Weg zum Friedhof macht, als plausiblere Erklärung erwiesen sich dann allerdings dessen Zähne. Der Weg, den die alten grauen Riesen abseits ihrer Gruppe einschlagen, ist durch weichere Gräser charakterisiert, die sich auch mit einem abgenutzten Gebiss noch zerkleinern lassen. Zumindest dieser biologische Kulturschock bleibt dem Menschen vorerst erspart.

      Die eigene Spezies hält allerdings auch immer wieder kleinere Überraschungen bereit, die Anlass für Urheberrechtsstreitigkeiten geben. So scheint es nicht das alleinige Schicksal des Homo europaeus zu sein, immer wieder zur Kenntnis nehmen zu müssen, dass auf anderen Kontinenten eine parallele, eigeninitiierte Kulturentwicklung stattgefunden haben muss. Mit einer der ältesten Hochkulturen betritt man nunmehr zumindest gerichtsfesten Boden. Die alten Ägypter hatten nicht nur einen der bemerkenswertesten Totenkulte, sie haben in weiser Voraussicht auch alles fein säuberlich dokumentiert. Deren Verwaltungsapparat lässt jeden überzeugten Bürokraten bis heute vor Neid erblassen. Mündlich überliefertes, mythisches Geschwätz kann hier ebenso wenig mithalten, wie noch nicht ausgegrabene Artefakte. Ärgerlicherweise wurden in der heutigen Türkei gerade noch rechtzeitig transzendentale Symbole freigelegt, die doppelt so alt sein sollen wie die ägyptischen Pyramiden. Deren ältestes Exemplar ist erst im 3. Jahrtausend vor Christi Geburt errichtet worden. War schon das Eingeständnis schier unerträglich, dass die menschliche Landwirtschaft im vorderen Orient das Licht der Welt erblickt haben muss, so scheint mit den neuen Funden auch noch die Erfindung der Arbeitsteilung auf dem Konto der Vorfahren des eigensinnigen EU-Beitrittskandidaten verbucht werden zu müssen. Die Herstellung des freigelegten Sakralmonuments könne jedenfalls unmöglich parallel zur Bestellung der Felder bewerkstelligt worden sein.

      So plausibel die Entstehungsgeschichte der Arbeitsteilung aus der Landwirtschaft heraus auch sein mag, rufen derlei rückblickend chronologische Sortierungen immer wieder die Justiz auf den Plan. Die meisten Entwicklungen sind räumlich und zeitlich nicht genau abgrenzbar. Sie verlaufen zum Teil überlagernd oder ohne wechselseitige Kenntnis parallel. Und selbst bei der Benennung der genialen Erfinder fällt häufig unter den Tisch, dass diese ohne die Vorarbeit ihrer Mitmenschen nicht unbedingt über ihre Entdeckung gestolpert wären. Im Fall der Arbeitsteilung legen die Gutachter auf der einen Seite jedenfalls dar, dass die Bestellung der Felder, als erster Wirtschaftszweig überhaupt, mehr abwarf, als die Hersteller im Hier und Jetzt selbst verbrauchen konnten. Ohne einen solchen Überschuss sei es unmöglich, die zusätzlichen Abteilungen „Verwaltung“ und „Verteidigung“ zu etablieren. Auf der anderen Seite verweist die Vertreterin der Jäger-und-Sammler-Gesellschaft schlicht auf die Namensgebung ihrer weit älteren, arbeitsteiligen Vereinigung. Ein weiterer Sachverständiger arbeitet heraus, dass der klärende Wesenskern gar nicht primär im zwischenmenschlichen, sondern im zeitlichen Aufteilen zu finden ist. Die entscheidende Veränderung liegt darin, dass in der Gegenwart Arbeiten zu verrichten sind, die sich erst nach geduldigem Abwarten auszahlen werden. Derart fruchtlose Phasen kann sich jedoch nur leisten, wer derweil an den Segnungen der Kooperationspartner teilhaben darf. Erleichternderweise mangelt es den zukunftsorientierten Säugetieren hier ebenso an der Parteifähigkeit wie den Ameisen, die seit jeher Blattläuse melken und Pilze kultivieren. Der Verfahrensausgang bleibt erst einmal abzuwarten.

      Bei langwierigen Prozessen ist ohne Zweifel Geduld und Vertrauen gefragt. Die Suche nach der Motivation hinter diesen zeitlichen Eigenschaften führt zurück zu den Ägyptern und deren vordergründig auf das Jenseits ausgerichtetes Leben. Immerhin betrieben diese nicht nur einen immensen technischen und lebenszeitintensiven Aufwand für den Bau ihrer Königsgräber, auch die dem Verstorbenen mitgegebenen Wertgegenstände waren, zumindest dem Plan nach, für das Diesseits verloren. Die Vorstellung der Wiedergeburt war jedoch bei Weitem nicht nur auf den Pharao beschränkt. Interessanterweise bewegen sich in der ägyptischen Mythologie alle Kreisläufe Richtung Anfang. Der Tag tendiert stets zum neuerlichen Sonnenaufgang und das Jahr neigt sich nicht dem Ende zu, sondern läuft dem Neubeginn der Zeit entgegen. Dieser ist gekommen, wenn das Hochwasser des Nils den Feldern neue Fruchtbarkeit verleiht. Auch wenn allen periodischen Verläufen damit grundsätzlich etwas Positives innewohnt, haben diese dennoch eine bedrohliche Seite. Aus der bisherigen Beobachtung der Himmelskörper und dem sich bislang wiederholenden Rhythmus der Natur lässt sich nach ägyptischem Verständnis nämlich keine Dauerhaftigkeit ableiten. An den Kreisläufen lässt sich allenfalls erkennen, wie der Gang der Dinge sein sollte. Der Pharao, als königlicher Abkömmling des Sonnengottes, übernimmt zwar die Verantwortung dafür, dass die Licht- und Wärmespenderin ihre erwarteten täglichen und jährlichen Kreise zieht. Wie im Versicherungswesen allerdings bis heute üblich, ist der Schadensfall idealerweise dem Versicherungsnehmer zur Last zu legen. Eine Motivationsstrategie, die in düstersten Farben das Ende ausmalt, macht in einer Kultur, in der alles verjüngend in Richtung Anfang läuft, keinen Sinn. Überzeugender ist in diesem Fall ein Horrorszenario, dessen Übel sich aus heutiger Warte nicht sofort erschließt. Eine „rückwärts“ laufende Zeit geht jedoch nicht mit der entspannten Haltung des Abwartens einher, wie Nora Nebel herausstellt, sondern mit der Sorge, auf dem mitunter hitzigen Weg zum Ursprung plötzlich stecken zu bleiben. Die Zeit rast bei den Ägyptern nicht davon, vielmehr droht sie zu versiegen. Jeden Tag gilt es aufs Neue, deren Gang durch Fleiß und Anstrengung aufrecht zu erhalten.

      Wie unterschiedlich ein alltagsbetontes Leben aussehen kann, zeigt ein Blick auf die Begründer der Philosophie. Statt der täglich notwendigen Anstrengung verband sich bei den Griechen die Gegenwart vielmehr mit einem qualitativ hochwertigen Augenblick. Zwar ist die Quellenlage etwas dürftig, aber vor dem Hintergrund der ägyptischen Plackerei konnte Diogenes von Sinope (ca. 400 v. Chr. bis ca. 323 v. Chr.) bekanntermaßen nur ein Hindernis für