Angelika Waldis

Rocco und Jele


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      Jele, bist du meine neue Liebe?

      Vielleicht.

      Er denkt mehr an sie, als er eigentlich möchte. Während sich die Klasse über die Hefte beugt, steht er am Fenster und geht die Gespräche von gestern abend durch. Er merkt, dass es ihm nicht – wie sonst oft – egal ist, was er gesagt hat, er möchte das Richtige gesagt haben. Er möchte von Jele richtig verstanden sein.

      Jemand stöhnt hörbar, die Prüfung heute ist nicht einfach. Er mag sich nicht nach den Schülern umdrehen. Er schaut nicht gerne zu, wie sie sich quälen, wie sich der kleine Fähmann den Hinterkopf reibt, wenn er nicht weiterweiß.

      Der Ahorn wird immer größer. Der Hauswart müsste mal die Äste schneiden. Sie kratzen bereits an der Scheibe. Wie eine arme Seele, oder so was ähnliches würde Jele sagen. Schon wieder Jele.

      7

      Es war ein perfekter Spaziergang. Er hat ihn nun so oft gemacht, zu jeder Jahreszeit, und immer war’s neu. Der Anstieg zum Eichberg – Jele nahm ihn sozusagen hüpfend –ist gegen Abend besonders schön, unten schimmert der See, oben schweben die letzten Deltasegler in der Bläue. Langsam wird der ganze Hang lebendig. Das Wie-Wie im Eichener Ried muss ein Kiebitz gewesen sein, und was oben in der Dämmerung schwirrte, war wohl eine frühe Fledermaus. Bevor sie im Dunkeln bergab stolperten, hat er Jele geküsst. Sie weiß nicht, dass es genau die Stelle war, an der sein Vater versucht hatte, ihn aufzuklären.

      Das hatte sich sein Vater wohl vor dem Ausflug vorgenommen, denn rückblickend scheint es ihm seltsam, dass sie nur zu zweit waren. Seine Mutter kann er auf jeden Fall nirgendwo ins Bild bringen.

      Da stand er also an derselben Stelle und fühlte die warme Jele, roch ihr Tee-Haar, und sie ließ seine Hand in ihre Hose klettern und in ihr Feuchtgebiet eintreten, und sie lachte, als er ihr das sagte, und nachher noch während des Küssens. Nur schade, dass aus der alten Wirtschaft nun ein Feinschmeckerlokal geworden ist, da will er nicht mehr hin.

      8

      Überraschungsausflug, hat sie gesagt. Um ein Uhr an der Endstation vom Zwölfer. Was für Schuhe?, wollte er wissen. Einen linken und einen rechten, hat sie gesagt. Und in den Hörer gekichert. Wenn er versucht, sich Jeles Gesicht vorzustellen, kommt zuerst Jele, die fragende. Dann Jele, die zu einem Spaß ansetzt. Dann Jele, die reservierte.

      Wahrscheinlich will sie seeaufwärts... Er wird ihr die Brutplätze der Haubentaucher zeigen. Es ist schon zehn nach, als er aus dem Bus steigt. Aber noch keine Jele da, niemand.

      Dieser grelle Tag. In der Eile hat er seine Schirmmütze vergessen. Idiotenmütze, findet Jele. Wenigstens hat er die Zeitung dabei. Er hat sich vorgenommen, die Artikelserie über Russland zu sammeln. Teil eins wird er noch suchen müssen in seinen diversen Zeitungshaufen. Odessa, Tiflis, Samarkand... Da hat er sich immer hingewünscht, damals, als er noch Tschechow und all die Russen las und etwas Besonderes werden wollte. Nun sind das verschandelte Städte – und er ist Rocco-der-Lehrer.

      Zwanzig nach. Dann eben nicht. Er ist keiner, den man warten lässt.

      9

      Er hat nicht damit gerechnet, dass sie einfach vor seiner Tür steht. Er geht ihr voraus ins Wohnzimmer. Sie steigt im Korridor etwas umständlich über die aussortierten Zeitungsstöße. Es fällt ihm ein, dass er schon lange nicht mehr gelüftet hat, aber jetzt, wo sie da ist, alle Fenster aufzureißen, würde wohl seltsam wirken. »Bitte, setz dich«, sagt er, dabei sitzt sie bereits.

      Das war’s also: falsche Endstation. Dass die andere gemeint war, konnte doch keine Sau erraten, da fährt doch niemand zum Spazierengehen hin. Sie hat sich entschuldigt, aber trotzdem. Wenn er etwas hasst, dann ist es Warten.

      Streiten mag er jetzt nicht.

      Er wird mal Musik machen. Und Tee.

      Warum sagt sie nichts? Gerade einmal für »danke«, »sicher«, »gern« macht sie den Mund auf. Reden wäre jetzt das Beste. Aber über etwas anderes als über diese verdammte Endstation. Reden, reden, plätschern. Über die Parlamentswahlen. Über die prämierten Werbespots. Oder über eine Russlandreise.

      Aber wenn sie nicht will, bitte sehr.

      Es rührt ihn, wenn sie beide Arme hebt, um ihr Haar besser festzustecken. Es sieht aus, als möchte sie wachsen.

      10

      Im Bett kommt sie ihm kleiner vor, und still ist sie. Und wenn sie manchmal einen Seufzer tut, dann weiß er nicht so recht, warum, aus Weh, aus Wohl... Geschmeidig spielt sie mit, und miteinander vertikal im Tandem geht es los, sehr rasch, sehr still.

      Und kurz bevor er einschläft, merkt er noch, wie sie ihn hält. Sie hält ihn fest am Arm, als dürfe sie ihn nicht verlieren in der Dunkelheit und im Gedränge eines Traums.

      Am Morgen liegt sie seitwärts, von ihm abgewandt, ein kleiner Wall aus Fersen, Waden, Hinterbacken, Schulterblatt. Den schaut er gerne an und schiebt den Augenblick hinaus, wo er mit flacher Hand darüberstreift. Und so die Zeit erneut zum Laufen bringt.

      »Jele, wenn du ein Testament machst, krieg ich dann was?«

      »Lass mich nachdenken. Eine Wimper.«

      »Warum?«

      »Braucht nicht viel Platz. Und alles, was ich durch sie hindurch gesehen habe, hängt noch dran.«

      »Etwas unheimlich, diese Wimper.«

      »Sie wird nicht zucken, das versprech ich dir.«

      »Versprich mir lieber, dass du nicht stirbst.«

      »Also gut. Nie. Und was kriege ich, in deinem Testament?«

      »Besuchserlaubnis.«

      »Im Spital?«

      »Nein, im Jenseits. Immer am ersten Montag im Monat. Zwischen ewig Uhr dreißig und ewig Uhr dreißig.«

      »Und die lassen mich einfach rein?«

      »Ja. Und raus.«

      »Und was zieh ich dazu an? Muss das feuerfest sein?«

      »Geh einfach zuerst die aktuellen Listen durch, auf www.hell.web.«

      »Ich möchte noch was haben. Was zum Anfassen. Socken oder so was.«

      »Socken nicht. Die kommen in eine Stiftung. Aber meinen Schatten kannst du haben. Leg ihn einfach unter deinen.«

      »Rocco, ich liebe dich, sehr.«

      11

      Gesagt ist gesagt. Jetzt, wo sie sich so freut, kann er seinen Vorschlag nicht mehr zurücksaugen. »Jele, kommst du mit?«, hat er gefragt, und sie hat einfach ja gesagt. Ohne zu fragen, wohin.

      Seine schöne Reise, an der er so lange herumgedacht hat, wird er also teilen. Aus der Traum von der stillen Fahrt mit dem Schiff nach Tilsit. Immer wird Jele dabei sein, wird sagen, schau! Schau, wie schön, schau, wie traurig. Warum hat er nur davon erzählt, sie hat ja gar nicht von Ferien geredet. Sie hat nur still auf dem Bett gelegen. Was tust du, Jele, hat er gerufen. Ich nehme ein Glücksbad, hat sie gesagt. Und da hat er angefangen mit der Kurischen Nehrung. Und sie hat gelacht: Kurische Nehrung? Das klingt wie etwas, woran man leidet. Etwas Orthopädisches.

      Dann wird er also Doppelzimmer buchen.

      12

      Mit Jeles Mutter hat er sich schon beim Händeschütteln angefreundet, was sich in ihm gesträubt hat, war plötzlich weg. Seltsam, dass sie so ganz anders aussieht als Jele. Da ist nichts von Jeles Ebenmaß und Helle, irgendwie windschief, zerzaust und schwarzfiedrig stand sie in der offenen Tür. Jetzt hört man sie in der Küche hantieren, während Jele das Fensterbrett freiräumt und sich draufsetzt. »Das war mein Lieblingsplatz«, sagt sie. Er kann sich nicht erinnern, dass er einen