Schiffskarten war. Dieser Verlust konnte unschwer erklärt werden: Sie hatte dem Wirte den
Paß vorzeigen müssen und ihn dann wieder in ihr Tuch gewickelt. Später war uns von ihr das
Couvert gezeigt worden, welches sie dann jedenfalls nicht so sorgfältig wie vorher den Paß
eingeschlagen hatte. Beim Schlafengehen war sie so vorsichtig gewesen, das Tuch mit den
beiden wichtigen Gegenständen unter ihr Kopfkissen zu legen. Dabei oder während ihrer
Bewegungen im Schlafe oder vielleicht auch erst früh beim Wegnehmen des Tuches war das
Couvert herausgerutscht und unter dem Kissen liegen geblieben.
Jetzt wußte der Wirt nicht, was er mit dem Fundgegenstande anfangen sollte, während ich
sofort im stillen entschlossen war, ihn der Eigentümerin zuzustellen.
»Ich werde das Couvert morgen früh der Polizei übergeben,« meinte er.
»Nein, das werden Sie nicht,« sagte ich.
»Warum nicht?«
»Weil es so blutarmen Leuten, welche von der Mildthätigkeit anderer leben müssen,
jedenfalls sehr unangenehm ist, wenn sie mit der Polizei auch nur in Berührung kommen
müssen. Man würde sie nach allem ausfragen, und das Ergebnis könnte sein, daß sie als
Landstreicher eingesperrt und dann per Schub nach ihrer Heimat transportiert würden, wohin
sie, wie wir wissen, nicht wieder wollen.«
»Sie sind wohl auch weiter nichts als Landstreicher!«
»Nein, sie sind brave, unglückliche Menschen, deren Not man nicht noch vergrößern darf.«
»Aber was soll ich sonst thun? Das Couvert mit der Post nach Graslitz schicken, denn dorthin
wollten sie?«
»Das geht auch nicht an, denn Sie kennen ihre dortige Adresse nicht, und die Karten dürfen
nicht allen möglichen Zufällen oder gar der Gefahr ausgesetzt werden, verloren zu gehen.«
»Aber nach Graslitz müssen sie doch!«
»Allerdings. Ich schlage vor, sie sicheren Leuten anzuvertrauen, welche nach diesem Orte
gehen und Frau Wagner dort aufsuchen werden.«
»Das würde allerdings das Klügste und Sicherste sein; aber ich weiß keinen Menschen, der
grad jetzt die Absicht hat, nach Graslitz zu gehen. Und warten, bis irgend jemand zufällig auf
diesen Gedanken kommt, dazu giebt es keine Zeit, denn diese Angelegenheit ist eilig.«
»Wenn Sie nicht, so kenne ich zwei Personen, welche bereit sind, diesen Botengang zu
übernehmen.«
»Sie? Wer ist das?«
»Ich und Carpio.«
»Sie selbst? Sie wollen nach Graslitz? Ich denke, Ihr Weg führt Sie nach Karlsbad und
weiterhin?«
»Wir haben eigentlich gar keine festgestellte Tour. Wir wandern, um zu wandern, ohne
eigentliches Ziel. Das einzige, was wir dabei zu beachten haben, ist, daß bei uns der
Unterricht am siebenten Januar wieder beginnt; da müssen wir daheim sein. Ob wir nach
Karlsbad oder nach Graslitz gehen, ist gleichgültig.«
»Aber die Tour nach Karlsbad ist bequemer; Sie haben da stets vortreffliche Straße, während
der Weg über Berg und Thal nach Graslitz hinauf jetzt im Winter so beschwerlich ist, daß
wenigstens ich ihn nicht gehen möchte. Oder wollen Sie fahren?«
»Nein. Erstens sind unsere Mittel dazu zu gering, und zweitens müssen wir mit in Rechnung
ziehen, daß wir die Gesuchten leicht noch unterwegs treffen können; wir müssen uns also für
dieselbe Transportgelegenheit wie sie entscheiden, nämlich für Schusters Rappen.«
»Schade, jammerschade! Sie gefallen uns, und wir rechneten darauf, daß Sie noch einen oder
zwei Tage bei uns bleiben würden. Wenn Sie wenigstens morgen noch bleiben, kann es leicht
möglich sein, daß Sie der Frau die Karten hier geben können.«
»Wieso?«
»Weil sie, wenn sie ihren Verlust bemerkt, schnell umkehren und wieder zu uns kommen
wird, um die Karten zu holen.«
»Das bezweifle ich, denn sie wird glauben, sie unterwegs verloren zu haben. Wenn sie nicht
die feste Überzeugung hätte, sie von hier mitgenommen zu haben, wäre sie wahrscheinlich
jetzt schon wieder da.«
»Es ist möglich, daß Sie recht haben. Also Sie sind wirklich entschlossen, diesen Leuten trotz
ihrer Undankbarkeit nach Graslitz nachzulaufen?«
»Ja. Was Ihnen als Undank erscheint, ist vielleicht eine Folge von Gründen, die Sie und wir
nicht kennen. Also, wir machen einen Ausflug, weil wir Bewegung brauchen; wohin wir
fliegen, wohin wir uns bewegen, das ist, wie schon gesagt, sehr gleichgültig; fliegen wir also
nach Graslitz!«
»Na, vom Fliegen wird da wohl keine Rede sein können. Es fängt an zu schneien, und wenn
es in dieser Nacht so fortschneit, sind für Sie morgen früh alle Wege zu.«
»Das macht uns heut noch keine Sorge; unsere einzige Sorge ist jetzt nur die, ob Sie uns das
Couvert mit den Karten anvertrauen werden.«
»Warum denn nicht? So braven Burschen, wie Sie sind, wird man doch Vertrauen schenken,
und ich bin überhaupt froh, daß ich diese Sachen los werde.«
»So brechen wir morgen früh auf, sobald es hell geworden ist. Wir werden wohl jemand
finden, der uns den Weg beschreiben kann.«
»Da brauchen Sie nicht weit zu suchen, denn ich stamme aus Bleistadt und kenne ihn ganz
genau. Ich werde ihn nachher auf ein Papier zeichnen, welches Sie mitnehmen können.«
»Abgemacht, beschlossen und genehmigt!«
»Nur langsam!« sagte Carpio. »Du thust doch, als ob du dich ganz allein auf der Erde
befändest! Du bestimmst, was geschehen soll, und thust das ganz nach deinem Gutdünken,
ohne mich auch nur ein einziges Mal zu fragen. Ich bin aber auch noch da, verehrter Sappho!«
»Das weiß ich. Ich glaubte, allein sprechen zu müssen, weil du die Sprache verloren zu haben
scheinst, und war überzeugt, daß du einverstanden sein würdest, wenn es gilt, armen,
unglücklichen Menschen zu ihrem Eigentume zu verhelfen.«
»Daß ich gern dabei bin, versteht sich ganz von selbst, nur weiß ich nicht, ob mein
übergangener Heißhunger mir morgen schon erlauben wird, einen so beschwerlichen Weg zu
machen.«
»Grad darüber brauchen Sie nicht zu sorgen,« fiel Franzl heiter ein. »Ich kenne ein ganz
sicheres Mittel, Sie bis morgen früh wieder gesund zu machen. Sie müssen dieses Mittel noch
heute abend verzehren.«
»Was ist es?« fragte Carpio neugierig.
»Vier oder fünf Stückchen Quarkkuchen.«
»Quark – – ku – – chen?«