Jonathan Crary

24/7


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einer Ökonomie, die »die Dinge fast so schnell, wie sie in der Welt erscheinen, auch wieder aufbraucht und wegwirft«, was jede Anerkennung gemeinsamer Interessen oder Ziele unmöglich macht. Mitten im Kalten Krieg der fünfziger Jahre hatte sie die Weitsicht zu schreiben: »Denn lebten wir wirklich in einer solchen Konsumgesellschaft, so würden wir überhaupt nicht mehr in einer Welt wohnen, sondern weltlos getrieben werden von einem Prozess«, in dem Dinge »erscheinen und verschwinden«.15 Sie sah auch, dass das »öffentliche« Leben und die Arbeitswelt von den meisten Menschen als Entfremdung erfahren wurde.

      Es gibt viele bekannte und verwandte Äußerungen, von William Blake (»Bewahre uns Gott vor Einäugigkeit und Newtons Schlaf«) über Carlyle (»unsere vornehmsten Fähigkeiten sind überdeckt von nachtmährischem Schlaf«) und Emerson (»Der Schlaf umwabert lebenslang unseren Blick«) bis Guy Debord (»Das Spektakel drückt nichts anderes aus als den Wunsch der Gesellschaft zu schlafen«).16 Man könnte leicht Hunderte weiterer Beispiele für diese umgekehrte Charakterisierung des wachen Anteils im modernen gesellschaftlichen Erleben anführen. Das Bild einer Gesellschaft von Schlafenden kommt von rechts und von links, aus der hohen und der niederen Kultur; es war ein beständiges Filmmotiv, von Caligari bis Matrix. Gemeinsam ist all diesen Beschwörungen einer massenhaften Somnambulie die Annahme beeinträchtigter oder verminderter Wahrnehmungskräfte, die sich mit standardisiertem, habitualisiertem oder umnachtetem Verhalten verbinden. Der Großteil der herrschenden Gesellschaftstheorie schreibt vor, dass moderne Individuen zumindest periodisch in wesentlich schlafunähnlichen Zuständen leben – Zuständen der Bewusstheit, in denen man dazu imstande ist, sich als ein rationaler und objektiver Teilnehmer am öffentlichen oder politischen Leben über Ereignisse und Informationen ein Urteil zu bilden. Alle Haltungen, in denen Menschen als handlungsunfähig erscheinen, als für Manipulation oder Konditionierung zugängliche, passive Automaten, werden normalerweise als regressiv oder unzurechnungsfähig betrachtet.

      Gleichzeitig werden die meisten Begriffe politischen Erwachens als genauso verstörend empfunden, weil sie von einem plötzlichen irrationalen Bekehrungsprozess ausgehen. Man denke nur an die Wahlparole der Nazipartei in den frühen dreißiger Jahren: »Deutschland erwache!« Historisch weiter zurück liegt die Paulus-Stelle im Römerbrief: »Die Stunde ist da, aufzustehen vom Schlaf […]: so lasset uns ablegen die Werke der Finsternis und anlegen die Waffen des Lichts.«17 Näher und zäher wiederum der Ruf der Ceauşescu-Gegner von 1989: »Wacht auf, Rumänen, aus eurem tiefen Schlaf, in den ihr durch des Tyrannen Hand versetzt worden seid!« Politische und religiöse Erweckungen werden für gewöhnlich in Wahrnehmungsbegriffen artikuliert, als die wiedererlangte Fähigkeit, durch den Schleier hindurch die Realität zu erkennen, eine verkehrte Welt von der richtigen zu unterscheiden oder zurückzufinden zu einer verlorenen Wahrheit, die alles, woraus man erwacht ist, negiert. Als epiphanische Aufrüttelung aus der tumben Bequemlichkeit des Alltagslebens bedeutet Erwachen das Wiedererlangen des Wirklichen im Gegensatz zur betäubten Leere des Schlafs. Erwachen ist, so gesehen, eine Form des Dezisionismus: die Erfahrung eines erlösenden Moments, eines Bruchs in der geschichtlichen Zeit, in dem das Individuum in der Begegnung mit einer bislang unbekannten Zukunft eine Selbstveränderung erfährt. Nur ist diese ganze Kategorie von Bildern und Metaphern heute unvereinbar mit einem globalen System, das nie schläft – als wolle es sicherstellen, dass kein störendes Erwachen je notwendig oder bedeutsam wird. Wenn von der Dämmerungs- und Sonnenaufgangs-Ikonographie überhaupt etwas bleibt, dann die Forderung Nietzsches, mit den Worten des Sokrates, nach dem »Tageslicht in Permanenz«, dem »Tageslicht der Vernunft«.18 Doch hat sich seit der Zeit Nietzsches ein ungeheurer, irreversibler Transfer menschlicher »Vernunft« auf den 24-Stunden-Betrieb der Datennetze vollzogen und auf die endlose Übertragung von Licht durch Glasfaserverbindungen.

      Paradoxerweise ist Schlaf sowohl das Bild für eine Subjektivität, auf welche die Macht mit dem geringsten politischen Widerstand einwirken kann, wie gleichzeitig eine Situation, die von außen letztlich nicht kontrolliert oder instrumentalisiert werden kann – die den Forderungen der globalen Konsumgesellschaft also entgeht oder widersteht. Es muss kaum gesagt werden, dass die vielen gesellschaftlichen oder kulturellen Klischees auf einem monolithischen oder flachen Begriff von Schlaf beruhen. Maurice Blanchot, Maurice Merleau-Ponty und Walter Benjamin sind nur einige Denker des 20. Jahrhunderts, die über die tiefe Ambivalenz des Schlafs und über die Unmöglichkeit nachgedacht haben, ihn in ein binäres Schema zu pressen. Gewiss muss Schlaf in Bezug auf die Unterscheidung zwischen Privatem und Öffentlichem, Individuellem und Kollektivem begriffen werden, aber stets eingedenk der Durchlässigkeit und Unschärfe beider Elemente dieser binären Gegensatzpaare. Worauf ich hinauswill, ist, dass Schlaf im Kontext unserer Gegenwart für die Beständigkeit des Sozialen stehen kann und dass er mit anderen Schwellen vergleichbar wäre, an denen sich die Gesellschaft schützen oder verteidigen könnte. Als der privateste, verletzlichste Zustand, der allen gemeinsam ist, ist der Schlaf zu seiner Aufrechterhaltung wesentlich abhängig von der Gesellschaft.

      In Thomas Hobbes’ Leviathan ist eines der lebendigsten Beispiele für die Unsicherheit des Naturzustands die Wehrlosigkeit des Schlafenden gegenüber den vielen Gefahren und Raubüberfällen, die nachts zu befürchten sind. Es ist also eine elementare Verpflichtung des Gemeinwesens, für die Sicherheit des Schlafenden zu sorgen, nicht nur vor wirklichen Gefahren, sondern auch – nicht weniger entscheidend – vor der Angst vor ihnen. Der Schutz des Schlafenden durch das Gemeinwesen entsteht im Rahmen einer breiteren Umgestaltung des gesellschaftlichen Verhältnisses von Schlaf und Sicherheit. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts begegnet man noch den Resten einer imaginären Hierarchie, in der die übermenschlichen Fähigkeiten eines Herrn oder Herrschers, dessen allwissende Kräfte, zumindest symbolisch, nicht vom Schlaf übermannt werden, unterschieden sind von den körperlichen Bedürfnissen gewöhnlicher arbeitender Männer und Frauen. Doch wird dieses hierarchische Modell in Shakespeares Heinrich V. und in Cervantes’ Don Quixote gleichzeitig zum Ausdruck gebracht und ausgehöhlt. Für König Heinrich besteht der wirkliche Unterschied nicht einfach zwischen Schlafen und Wachen, sondern zwischen einer im Laufe der »ganz durchwachten Nacht« bewiesenen Wachsamkeit und dem gesunden Schlaf und »ledgen Mut« der kleinen Grundbesitzer und Bauern.19 Sancho Pansa teilt, von einem anderen Standpunkt, die Welt ein in jene, die, wie er selbst, zum Schlafen geboren sind, und in jene, die zum Wachen geboren sind wie sein Herr. In beiden Werken gibt es, auch wenn oberflächlich die mit dem Rang verbundenen Verpflichtungen noch existieren, ein gleichzeitiges Bewusstsein der Überlebtheit und des rein formalen Fortbestehens dieses paternalistischen Modells der Wachsamkeit.

      Das Werk von Hobbes ist ein wichtiger Hinweis auf einen Wandel in Bezug auf die Gewährleistung sowohl der Sicherheit als auch der Bedürfnisse des Schlafenden. Neue Gefahren haben jene verdrängt, die Heinrich V. und den Herrn Sancho Pansas umtrieben. Diesen Gefahren wird mit Verträgen begegnet, die nicht mehr auf einer natürlichen Ordnung der irdischen und göttlichen Stellung beruhen. Die großen bürgerlichen Gründungsrepubliken, wie Hobbes’ imaginäres Gemeinwesen, grenzten aus, weil sie den Bedürfnissen der besitzenden Klassen dienten. Der dem Schlafenden gebotene Schutz bezieht sich folglich nicht nur auf seine materielle und leibliche Sicherheit, sondern auch auf sein Hab und Gut. So geht die Gefahr für den friedlichen Schlaf der Eigentümerklasse nun von den Armen und Notleidenden aus, wohingegen die Geringsten, selbst der »arme Sklav«, noch integraler Bestandteil der Menge der Schlafenden gewesen waren, über die König Heinrich zu wachen hatte. Der Zusammenhang zwischen Besitz und dem Recht oder Vorrecht auf ruhigen Schlaf hat also seinen Ursprung im 17. Jahrhundert und bleibt in den Städten des 21. Jahrhunderts in Kraft. Öffentliche Räume sind heute vollständig auf die Verhinderung von Schlaf angelegt. So werden Bänke und andere Flächen oft – mit einem immanenten Sadismus – wie Nagelbretter gestaltet, damit sich niemand darauf ausstrecken kann. Das verbreitete, aber gesellschaftlich ignorierte Phänomen städtischer Obdachlosigkeit umfasst viele Entbehrungen, nur wenige aber sind akuter als die Gefahren und Unsicherheiten von schutzlosem Schlaf.

      In einem erweiterten Sinne aber wurde der Vertrag, der vorgibt, jedem, ob vermögend oder nicht, Schutz zu bieten, schon lange gebrochen. Im Werk Franz Kafkas sind Verhältnisse allgegenwärtig, in denen Hannah Arendt die Abwesenheit von Räumen oder Zeiten für Ruhe und Erholung erkannte. Das Schloss, »Der Bau« und andere Texte vermitteln immer wieder ein Gefühl von Schlaflosigkeit und erzwungener