Bernd Heinrich

Handbuch des Strafrechts


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maßgeblich beigetragen haben sollen, so mag die Sensibilisierung eines Strafrichters im Hinblick auf die Rechtsfolgen (idealtypisch) eher zu einer restriktiven Handhabung führen, als ein Zivilrichter, der einen möglichst umfassenden Verbraucher- oder Wettbewerbsschutz anstrebt.[18] Freilich kann sich dies auch in einem Anwendungsdefizit dergestalt äußern, dass zumindest am Ende der Ermittlungen eine Einstellung nach §§ 153, 153a StPO erfolgt, die nach Gesichtspunkten der Rechtseinheit und Verhältnismäßigkeit kaum tragbar erscheint.

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      Die eigentliche Diskussion beginnt im Bereich echter Blankettnormen, bei denen die Sanktionsnorm letztlich nicht durch den formellen Gesetzgeber, sondern durch den Verordnungsgeber konkretisiert wird. Derartige Vorschriften enthalten sog. Rückverweisungsklauseln, d.h. die entsprechende Rechtsverordnung für einen konkreten Tatbestand ordnet an, dass die Verordnung ausdrücklich auf die Straf- bzw. Bußgeldvorschrift, also auf das „Blankett“; zurückverweist. Auf den ersten Blick scheint man mit solch einem Konzept das „Ob“ der Strafbarkeit der Kompetenz des Bundesgesetzgebers entzogen zu haben (weswegen es sich ebenso um eine Frage des Art. 20 Abs. 3 GG handelt).[19] Grundsätzlich wird diese Möglichkeit allerdings von der h.M. akzeptiert, weil der Gesetzgeber selbst die Verordnungsermächtigung erteilt. Bedenklich wird solch eine „Delegation“ aber, wenn nicht lediglich einzelne Tatbestandsmerkmale der „Konkretisierung“ durch den Verordnungsgeber unterworfen werden, sondern der gesamte Verbotstatbestand durch diesen generiert werden kann. Dies galt insbesondere für § 95 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. § 6 AMG a.F.;[20] dabei sind Wendungen wie das Zuwiderhandeln als Bezugstathandlung Indiz für Straftatbestände ohne eigenen Normbefehl, die als „leere Hülsen“ dem Verordnungsgeber die Ausgestaltung in verfassungswidriger Weise voll und ganz überlassen.

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      Die Rechtsprechung behilft sich noch – wie zuletzt der Zweite Senat in einer Entscheidung zum Inverkehrbringen von Dopingmitteln – mit dem Argument der „Heilung durch legislativen Akt“.[21] Die Bestimmungsgewalt des Gesetzgebers bleibe erhalten, wenn die Bezugnahme auf jährlich aktualisierte Anhänge auch durch die Legislative erfolge, da sie die Bezugsvorschriften aktualisiere und damit die zu demjenigen Zeitpunkt geltenden Verbotslisten in seinen Willen aufnehme. Dieser Ansatz spielt jedoch nur eine Rolle, wenn der Verordnungsgeber seine Kompetenz überschritten oder bereits der Gesetzgeber es verpasst hat, in der Verordnungsermächtigung selbst die Grenzen, Umfang und Ausgestaltung des Verbots klar und deutlich abzustecken (Art. 80 GG).[22] Im Kontext des § 6 AMG hat sich die Problematik weitestgehend entschärft, da der Gesetzgeber mit dem Gesetz für mehr Sicherheit in der Arzneimittelversorgung vom 9. August 2019[23] die in § 95 Abs. 1 Nr. 2 und in § 96 Nr. 2 AMG enthaltenen Rückverweisungsklauseln gestrichen und durch unmittelbar in § 6 AMG formulierte Verbote ersetzt hat (Rn. 1).

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      Soweit das Arzneimittelstrafrecht phänomenologisch ohnehin nur in ganz bestimmten Fällen eine Rolle spielt und innerhalb dieser Fälle dann stets dieselben Auslegungsfragen von zentraler Bedeutung sind, ergibt es Sinn, bestimmte – gleichsam auftretende – Tatbestandsmerkmale vor die Klammer gezogen darzustellen. Dies betrifft insbesondere den Begriff des Arzneimittels selbst (Rn. 15 ff.), der bis vor kurzem noch als Auffangtatbestandsmerkmal im Bereich der Rauschgiftkriminalität fungierte (und diese Funktionalisierung – wie die Rechtsprechung zum § 95 AMG belegt – beim Gros der arzneimittelstrafrechtlichen Sachverhalte im Mittelpunkt stand), partiell allerdings auch ubiquitäre Tathandlungen, wie bspw. das Inverkehrbringen. Diese Modalität taucht im § 95 AMG sechsmal, im § 96 AMG gleich neunmal auf.

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      Der Begriff des Arzneimittels ist Dreh- und Angelpunkt des gesamten Arzneimittelrechts, weswegen es nicht überrascht, dass der Gesetzgeber seine Definition nicht in die allgemeine Begriffsdefinitionsvorschrift des Arzneimittelrechts (§ 4 AMG) „gepresst“, sondern dieser – auch um eine ausreichende Systematisierung gewährleisten zu können – eine eigene Vorschrift, § 2 AMG, gewidmet hat.

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      Der nunmehr in vier (streng genommen fünf) Absätzen legal „definierte“ Arzneimittelbegriff weist eine etwas eigenwillige Systematik auf[24] und scheint zumindest prima vista weit über das hinaus zu gehen, was im Volksmund als „Arznei“ bezeichnet werden würde. Es liegt auf der Hand, dass ein Gesetz, welches die unterschiedlichen Produktionsstufen der Arznei erfassen will, nicht voraussetzt, dass das Präparat eine bestimmte Produktionsstufe erreicht haben müsste. Die äußere Bezeichnung, etwaige Beipackzettel, die Beschreibung des Präparats und die arzneimittelrechtliche Zulassung haben ebenso allenfalls indizielle Bedeutung. Während § 2 Abs. 1 Nr. 1 AMG auf die Bestimmung des Stoffes zur Anwendung bei Mensch oder Tier und als Mittel zur Heilung, Linderung oder Verhütung von Krankheiten abstellt, rückt § 2 Abs. 1 Nr. 2 AMG die Wirkungsweise des Stoffes auf die physiologischen Funktionen des Organismus in den Mittelpunkt. Dementsprechend wird terminologisch zwischen sog. „Präsentationsarzneimitteln“ nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 AMG und Funktionsarzneimitteln nach § 2 Abs. 1 Nr. 2 AMG unterschieden.[25]

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      Sodann wird in § 2 Abs. 2 AMG für bestimmte Präparate, welche nicht unter die Definition des Arzneimittels fallen, eine Arzneimittelqualität zugeschrieben, mithin fingiert.[26] Es folgt in Abs. 3 eine negative Abgrenzung in Form der Auflistung von Stoffen und Stoffzusammensetzungen, die nicht als Arzneimittel klassifiziert werden können. In Abs. 3a findet sich sodann eine Grenzfall- (keine Zweifelsfall-)Regelung, die für diejenigen Konstellationen, in denen sich eine trennscharfe Abgrenzung nicht vornehmen lässt, in Umsetzung von Art. 2 Abs. 2 RL 2001/83/EG einen Vorrang des Arzneimittelrechts festschreibt, ohne die Arzneimitteleigenschaft des gegenständlichen Stoffs zu „vermuten“ bzw. zu fingieren. Im Gegensatz hierzu findet sich in Abs. 4 eine gesetzliche Vermutungsregelung, welche bei Vorliegen der dort genannten Voraussetzungen im Interesse der Rechtssicherheit eine unwiderlegbare (in S. 1 positiv, in S. 2 negativ) Vermutung hinsichtlich der Klassifikation der streitgegenständlichen Substanz als Arzneimittel aufstellt.

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      Bei solch einer Systematik wird deutlich, dass sich die (auch aufgrund ihres Umfangs) komplex anmutende Definitionsvorschrift im Kern auf die materiell-rechtliche Eingangsdefinition in Abs. 1 reduzieren lässt. Die rechtliche Einordnung steht und fällt mit der Frage, ob der Stoff unter eines der beiden Arzneimittelbegriffe (Präsentations- oder Funktionsarzneimittel) subsumiert werden kann.

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      § 2 Abs. 1 Nr. 1 AMG erfasst Produkte, deren Einordnung als Arzneimittel intendiert zu sein scheint. Aus der Perspektive des Rechtsanwenders handelt es sich also um mehr oder weniger eindeutige Fälle, also um Arzneimittel auf dem „Präsentierteller“. Ihre demnach passende Bezeichnung als „Präsentationsarzneimittel“ ist auch im Übrigen wörtlich zu nehmen: Gemeint sind alle Produkte mit therapeutischer oder prophylaktischer Zweckbestimmung, wobei entscheidend ist, dass diese Zweckbestimmung (ggf. auch durch schlüssiges Verhalten) nach außen tritt, also ein Durchschnittsverbraucher aufgrund der Darstellung von einer Arzneimittelqualität des Stoffes bzw. Produkts