der Tag, alles ist plötzlich groß und still geworden, ein ungeheurer Ernst steht auf der grauen Bahn der verstummten Bucht. Manchmal rollt ein Stein aus den Dolinen los, durch das ungeheure Schweigen.
Wie heißt der Weg, den wir gehen? Jetzt Stefanieweg, zur Erinnerung an einen Besuch der Kronprinzessin, aber das Volk nennt ihn immer noch den Napoleonweg. Napoleon? Ja, Napoleon war einmal in Triest, und dort oben, wo wir früher gestanden haben, stand auch er einst und sagte, nach Grignano hinzeigend: Hier gehört ein Weg her, ich will hier einen Weg, hier will ich gehen, wenn ich wiederkomme! Und der Weg war. Napoleon ist nicht wiedergekommen. Aber der Weg ist noch immer da. Nur ein bißchen steinicht und verwahrlost ist er jetzt.
Ich erinnere mich, im Memorial einmal gelesen zu haben, wie Napoleon von einem Begleiter gefragt wird, warum er ihm denn einst irgendeine Kommission zugewiesen, von der der Begleiter nichts verstanden. Nun, antwortet der Cäsar, ist sie dir nicht gelungen? Ja, sagt der Begleiter, aber ich wundere mich noch heute. Siehst du, sagt Napoleon, es kommt eben gar nicht darauf an, daß einer eine Sache gelernt hat, sondern darauf, daß er überhaupt Verstand hat; dem Dummen nutzt es nichts, sie gelernt zu haben, und der Gescheite hat es gar nicht erst nötig. – Napoleon wußte, daß man etwas noch lange nicht kann, wenn man es kennt. Kenntnisse kann man sich jeden Moment verschaffen, Bücher und Lehrer sind überall, aber das Können muß man haben. Wir verwenden »gelernte« Leute, er zog gescheite Leute vor. Worin er dem Hofrat Burckhard gleicht, der auch gern sagt, daß er sich ein Haus lieber von einem begabten Schneider als von einem dummen Architekten bauen und einen Katarrh lieber von einem klugen Briefträger als von einem albernen Arzt behandeln läßt. Aber unser Land wird durch Fachleute verheert. Ein Fachmann ist, wer etwas gelernt hat und es nicht versteht.
Nun schreiten wir am Meer, das Wasser gluckst, der Abend schwebt mit schwarzen Schwingen. Ich denke still bei mir an unser Land, an unsere Leute. Wenn man sie reden hört, ist immer der andere schuld. Jeder will das Beste, aber an dem anderen fehlt's. Und jeder will zunächst den anderen ändern, das scheint ihm das Wichtigste; er kümmert sich um den anderen viel mehr als um sich selbst. Und wir haben auch eine merkwürdige Art von Egoismus im Land. Sonst will ein Egoist, daß es ihm so gut als möglich gehe. Hier nicht. Hier kommt es dem Menschen weniger darauf an, daß es ihm gut gehe, als darauf, daß es dem anderen schlecht gehe. Das nennt man den nationalen Kampf. Auch wollen sie nichts wagen. Sie wollen »sicher« gehen. Lieber ein sicheres Elend als ein ungewisses Glück. Und dann diese österreichische Todesangst vor jeder Veränderung, oben und unten. Nur im Gewohnten bleiben! Warten wir lieber noch ein bissel! Der psychische Apparat scheint schlecht geschmiert und knarrt, wenn er sich bewegen soll. Wenn man in Wien, um Licht und Luft zu kriegen, irgendein altes Haus fällen muß, weinen alle. Und so warten wir immer lieber noch ein bissel. – Man darf schließlich auch gegen die Regierung nicht ungerecht sein. Ihr ärgster Fehler ist, daß sie volkstümlich ist. Sie gleicht unserem Volke. Wir hätten eine nötig, die fremdartig wäre. Wir müßten einmal einen ungemütlichen Regenten haben.
Und dann irren durch dieses Land solche Querulanten wie ich, ruhelos, die voll Zorn sind, an ein starkes Österreich glauben und es suchen gehen, während der Abend mit seinen großen schwarzen Augen über das glucksende Wasser schaut.
4
Mein Schiff heißt Baron Gautsch, der Kapitän Zamara. Er sieht halb wie ein Verführer, halb wie ein Verschwörer und ganz wie ein Gebieter aus. Don Juan und Orsini und Tegetthoff, von jedem grad so viel, daß die Mischung alle Frauen beben macht, was ja zu seinen Obliegenheiten gehört. Der Rasse nach ein Spanier, die Eltern haben in Mailand gelebt, er spricht Italienisch, Kroatisch, Deutsch, Französisch und Englisch; alles zusammen gibt einen echten Österreicher, an dem man seine Freude hat. Gewandt, gelenk, geschwind, munter, herrisch und gutmütig. Und man fühlt, daß er gewiß bei sich noch ganz anders ist, als er sich gibt. So gut zusammengemischte Menschen haben immer einen doppelten Boden. – Ich beneide ihn um seine Geduld. Die Wiener haben nämlich die Gewohnheit, sich statt an den Kellner in allen Fällen an den Kapitän zu wenden. Erstens, weil es wienerisch ist, Fragen immer an den zu richten, den sie nichts angehen. Zweitens, weil der Wiener Ehrgeiz hat und sich sozial gehoben fühlt, wenn der Kommandant mit ihm spricht. Deshalb will der Wiener auch durchaus auf die Brücke. Es interessiert ihn weiter gar nicht. Aber er will etwas, was nicht jeder haben kann. Und womöglich etwas, was verboten ist. Man sollte verbieten, Steuern zu zahlen. Dann wäre der Wiener begeistert dafür.
Ein bildhübsches lustiges Mädel schießt auf dem Schiff herum. Ein junger Herr macht sich an sie. Sie ist zuerst ein bißchen verlegen. Aber der junge Herr hat die Gewohnheit, nach jedem Satz, den er sagt, zu krähen. Er sagt: Jetzt geht's gleich los und aufs hohe Meer hinaus! Dann verschluckt er seine Augen, die Wangen breiten sich grinsend aus und er kräht. Er sagt: Adieu, Triest, adieu! Und wieder ertrinken die Augen, die Wangen wogen und er kräht. Er sagt: Sind Fräulein schon einmal seekrank gewesen? Augen weg, Wangen auf und er kräht. Ich frage mich: Warum kräht er? Er hat aber recht. Denn bevor er noch zum viertenmal gekräht hat, ist ihm das Mädchen schon zugetan. Sie lacht vergnügt. Ich frage mich: Warum lacht sie? Sein Krähen und ihr Lachen müssen irgendwie geheimnisvoll zusammenhängen. Der Hahn in jungen Männern scheint dem Seelenohr junger Mädchen wohl zu klingen.
Ein geistlicher Herr sonnt sich. Groß, alt, schwer, und mit so einem knöchernen mühsamen faltigen Gesicht, das rundherum aus Schnupftabak zu bestehen scheint. Seine Stimme hat was Streichelndes, und sie spritzt einen gleichsam immer mit Weihwasser an. Er reist nach Lussin. Ein bißchen Ruhe und ein bißchen Sonne brauch ich, sagt er, die harten Bauernhände faltend. Ich kann mir lange nicht erklären, was mich so zu dem Alten zieht; er heimelt mich an. Bis mir einfällt, daß er ein bißchen dem Ozzelberger ähnlich sieht, dem Florianer, von dem wir im Linzer Gymnasium Griechisch lernten. Gern aber sprach er, in den Xenophon hinein, von der Sünde. Da hörten wir Buben mit Leidenschaft zu, das Griechische war weit weniger interessant. Zwar erfuhr man nie, was es eigentlich mit der Sünde war, aber er hatte eine solche Macht, drohende Worte schwer und schwarz wie wütende Wolken aufzuballen, daß einem davon höchst seltsam gruselte, den kalten Rücken hinab. Uns wurde kitzelnd bang, wie beim Klettern. Ihm muß auch ganz warm geworden sein, das sah man. Noch steht er mir in der Erinnerung da, die knollige, braun tropfende Nase witternd aufgespreizt, mit dem großen derben Finger drohend, das zerknitterte Gesicht in Angst und Zorn. Dann fiel die dicke Haut seiner runzligen Lider zu, so daß er gleichsam mit den Augen zu seufzen schien. Und nun krachten aus seinem bösen Mund mit den hängenden Lippen, die, wenn er sich ereiferte, kleine weiße Blasen hatten, Drohungen und Verwünschungen, gegen die Sünde, Wollust und Unzucht. Wir duckten uns, zogen den Atem ein und hörten zu, wie bei einem furchtbar schönen, unbegreiflichen Gewitter. Dann schwang er sein blaues fleckiges Tuch und jetzt ging es wieder zu den Verben auf μι zurück. Mein größter Eindruck war, als er uns einmal fluchend zurief: Unzucht krümmt die Rücken, hat Aristophanes gesagt! Das kam mir höchst merkwürdig vor, und seitdem sah ich mir auf der Gasse jeden an, ob er einen krummen Rücken hätte. Meine Eltern waren mit einem alten Hofrat gut, einem sehr freundlichen, schon etwas zittrigen und schiefen alten Herrn. Er ging gern mit uns spazieren. Kehrten wir dann heim und er empfahl sich an unserem Tor, wobei er vor Höflichkeit noch mehr zusammensank, so sah ich ihm nach und sagte stets: Unzucht krümmt die Rücken, Mama! Da wurde meine arme Mama manchmal sehr bös.
Seltsam ist es, so einem alten Herrn, wie diesem guten Pfarrer, klagen zuzuhören. Hart ist sein Leben und hat nichts als Mühsal. Und wenn man altert, hört auch die Hoffnung auf. Man weiß, es wird nicht mehr anders. Man weiß, Leben ist Leiden. So sagt er. Und hat doch offenbar nichts im Sinn, als nur sich dieses Leiden noch auf viele Jahre zu verlängern. Nur ein bißchen Ruhe und ein bißchen Sonne brauch ich halt, sagt er immer wieder. Wozu? Um die Mühsal wieder ein Stück weiter zu tragen, nur immer noch weiter.
Zwei Offiziere, von Prag nach Cattaro versetzt, ein deutschnationaler Gemeinderat aus Innsbruck mit seiner Tochter, ein altes Ehepaar, das nach Gravosa geht. Wir sind kein Dutzend auf dem großen Schiff. Die Fremden, heißt's, fürchten den Krieg. Sie fürchten wohl mehr die Wanzen der dalmatinischen Hotels.
Es ist kalt. Die Sonne taucht mit blassen Strahlen aus dem Dunst. Der Wind flattert in kleinen kurzen knatternden Stößen. Wir sind an Muggia, Capo d'Istria und Pirano vorbei, es erscheinen Parenzo und Rovigno. Wenn man so vorüberkommt, ist's wie ein ausgestorbenes Land. Die Städte sehen verlassen