Patricia Vandenberg

Dr. Norden Jubiläumsbox 7 – Arztroman


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hatte, in denen sich alles um Sie drehte.«

      »Sie haben mir früher schon ein paar Mal sehr geholfen, Anouk. Ich bin froh, daß Sie wieder nach München zurückgekehrt sind.«

      »Dieses München muß doch eine ganz besondere Anziehungskraft für mich haben«, sagte sie mit einem rätselhaften aber auch bezaubernden Lächeln. Sie blickte auf ihre Armbanduhr. »Ich denke, ein Mann wird gleich hier erscheinen, also werde ich jetzt lieber gehen.«

      »Sie verstehen es immer wieder, mich in grenzenloses Erstaunen zu versetzen, Anouk.«

      »Ich überrasche mich selbst, wenn eintrifft, was ich gerade dachte.« Und schon schlug der Türgong an.

      Daniel ging zur Tür, Anouk folgte ihm, und eine Sekunde später stand sie Lennart gegenüber. Daniel beobachtete sie. Es war schade, daß er nicht beide gleichzeitig so genau beobachten konnte, denn Lennarts Gesicht war auch ein einziges Fragezeichen.

      »Lennart van Eicken – Anouk Maurus«, stellte Daniel die beiden vor. Während es Lennart anscheinend restlos die Sprache verschlagen hatte, sagte Anouk mit einem seltsamen Ausdruck: »Wir werden uns sicher bald sehen. Danke für das Gespräch, Daniel.«

      Sie nickte Lennart leicht zu, schenkte Daniel noch ein Lächeln, das bedeutungsvoll war und verschwand.

      »Sie ist Psychotherapeutin«, erklärte Daniel beiläufig.

      »Aber noch sehr jung«, meinte Lennart.

      »Dennoch überaus befähigt, selbst problematische Fälle zu behandeln, vielleicht auch Sie?«

      »Wer sollte da Licht hineinbringen«, erwiderte Lennart tonlos.

      »Wir werden sehen. Nehmen Sie Platz, und entspannen Sie sich. Versuchen Sie, ein paar Minuten gar nichts zu denken, einfach nur abzuschalten.«

      Lennart lehnte sich mit geschlossenen Augen in den bequemen Ledersessel zurück.

      Daniel betrachtete ihn.

      Die Kopfform kann man auch nicht völlig verändern, dachte er, also wird er auch früher eine hohe Stirn gehabt haben. Die Nase, ja, die konnte man operieren, das taten viele, die eine schmalere, kleinere oder größere haben wollten, Falten konnte man beseitigen, Lippen voller machen, Ohren anliegender. Lennart hatte schmale Lippen und eine gerade Nase und enganliegende Ohren. Die Augen waren groß und standen ziemlich weit auseinander.

      »Glauben Sie an Gott, Lennart?« fragte Daniel. Da schlug der andere fast erschrocken die Augen auf.

      Er nickte zustimmend, und Daniel fragte, welcher Religion er sich am meisten verbunden fühle.

      »Ich habe mich während des langen Krankenlagers mit dem Buddhismus befaßt, mit dem ich wohl am ehesten vereinbar bin, da ich mich als wiedergeboren betrachten kann und mein früheres Karma ein anderes gewesen sein könnte als mein jetziges. Ich muß mich doch damit auseinandersetzen, daß ich zwei Gesichter habe und zwei Leben.«

      »Wie möchten Sie sein, Lennart? Ein Idealist, Materialist, ein künstlerischer oder technischer Mensch?«

      »Von jedem etwas vielleicht. Ich bin nicht sicher, sondern auf der Suche nach meinem Ich.«

      »Ich werde Ihnen jetzt Städte nennen, und Sie sagen mir, welches markante Bauwerk dorthin gehört oder welche Besonderheiten Sie diesen Städten zuordnen. Fangen wir mit Paris an.«

      »Notre-Dame, Louvre, die Seine, der Eiffelturm, Sacre Coeur, Champs Elysées.«

      »Sehr gut, Sie scheinen Paris zu kennen.«

      »Tatsächlich, ich weiß sehr viel von der Stadt und ihrer Umgebung.«

      »Parlez vous français?«

      »Oui, Monsieur Docteur.« Er griff sich an die Stirn. »Ich weiß nicht, wieviel ich behalten habe. Englisch spreche ich ziemlich perfekt, das hat Thilo schon festgestellt.«

      »Und Deutsch sprechen Sie auch sehr gut, aber ohne jeden Dialekt. Wenn Sie hier geboren sind, weiß ich nicht, welchem Landesteil man Sie zuordnen könnte.«

      »Ich glaube nicht, daß ich hier geboren bin. Ich kann es nicht erklären, aber irgendwie habe ich es im Gefühl.«

      »Italien, Rom?«

      »Petersdom, Vatikan. Mailand, Verona, Florenz. Ich habe keine Erinnerung, dort gewesen zu sein.«

      »Hamburg?«

      »Der Hafen, die Alster, der Michel, Reeperbahn, Blankenese, Schulau – stimmt das?«

      »Sehr gut, und wie ist es mit Berlin?«

      »In den Zeitungen steht jetzt sehr viel von der Mauer. Ich war bestimmt niemals dort. Aber wenn ich über andere Städte auch viel weiß, sind das doch

      keine Beweise, daß ich dort war. Ich habe sehr viel gelesen in den Monaten nach dem Unfall. Manches könnte ich mir einbilden. Es ist doch kaum zu glauben, daß ich mich nicht an einen Menschen, einen Namen erinnern kann, aber ich lerne sehr schnell, also arbeiten meine Gehirnzellen.«

      Vielleicht versteht es Anouk besser, dachte Daniel. »Darf ich Sie jetzt untersuchen?« fragte er.

      »Haben Sie gute Nerven?« fragte Lennart zurück.

      Als er sein Hemd auszog, begriff Daniel, was er mit der Bemerkung gemeint hatte, denn sein Oberkörper war voller Narben, die zum Teil noch immer nicht ganz verheilt waren.

      »Thilo hat sich wahrlich große Mühe gegeben, aber er konnte nicht alles runderneuern«, sagte Lennart mit Galgenhumor. »Sie brauchen keine Angst zu haben, wenn Sie mich anfassen, ich spüre keine Schmerzen mehr. Wahrscheinlich bin ich für immer immun.«

      »Jedenfalls waren Sie auch im früheren Leben ein kräftiger, durchtrainierter Mann«, stellte Daniel fest. »Welchen Sport bevorzugen Sie?«

      »Skifahren, ich denke, das möchte ich wieder tun.« Daniel hielt den Atem an, weil er ›wieder‹ sagte.

      »Sie sind früher Ski gefahren? Sie waren in den Bergen. Vielleicht in Österreich oder in der Schweiz.«

      Lennart bekam wieder seinen grüblerischen Blick.

      »Ich würde es vielleicht wissen, wenn ich dort wäre. Jedenfalls war ich bestimmt schon früher in München. Ich finde mich hier sehr gut zurecht, und viele Straßennamen kommen mir bekannt vor. Als Thilo mich fragte, ob ich lieber nach London oder nach München will, entschied ich mich ganz spontan für München.«

      »Bleiben wir noch mal beim Sport. Vielleicht wird es bald schneien, dann können Sie Skifahren. Wie ist es mit Tennis?«

      »Das ist mir auch nicht fremd, und Basketball.«

      »Segeln und Schwimmen?«

      Lennart zog fröstelnd die Schultern zusammen. Er schloß die Augen. »Das Salzwasser hat mein Gesicht zerfressen«, sagte er leise.

      Er sah Daniel jetzt gequält an, und Daniel sah auch Angst in seinen Augen.

      »Sie waren im Wasser, aber Sie haben auch keine Erinnerung, wie Sie dorthin gekommen sind.«

      »Manchmal bilde ich mir ein, auf einem ziemlich großen Schiff zu sein mit vielen Leuten, aber wenn das stimmen würde, müßte sich doch jemand an mich erinnern und mich auch vermissen. Wahrscheinlich sind es Träume.«

      Daniel tastete den Oberkörper ab. »Sie hatten Rippenbrüche«, stellte er fest. Lennart nickte. »Aber sonst war nichts gebrochen, nicht die Beine, auch nicht die Arme. Thilo stellte nur schwerste Blutergüsse fest.« Er schwieg wieder nachdenklich. »Kann es sein, daß vor allem mein Gesicht zerstört werden sollte?«

      »Dieser Gedanke ist mir auch gekommen, Lennart. Jemand wollte, daß Sie nicht erkannt werden, wenn man Sie findet, aber vielleicht hat man sogar gehofft, daß Sie nie gefunden werden.«

      »Aber warum?« fragte Lennart tonlos.

      Was sollte Daniel darauf erwidern? Er dachte nur, daß sie das womöglich nie erfahren würden.

      *