beizulegen, und fragte mich dann, wie ich eigentlich auf diesen prächtigen Platz aufmerksam geworden wäre. Ich las ihm die Notizen vor, die ich mir seinerzeit in dieser Angelegenheit gemacht hatte und die ich wörtlich hierher setze:
»In Purfleet, in einer Nebengasse, fand ich ein Grundstück, wie ich es gerade brauchte. Eine verwaschene Tafel zeigte an, dass es zu verkaufen wäre. Es ist umgeben von einer hohen, aus roh behauenen Steinen gefügten Mauer und seit einer langen Reihe von Jahren nicht mehr instand gehalten worden. Die verschlossenen Tore sind von schwerem Eichenholz mit verrosteten Eisenbeschlägen.«
»Das Grundstück heißt Carfax, ohne Zweifel eine Verstümmelung des alten quatre faces,6 denn das Haus ist würfelförmig, die Seiten nach den vier Himmelsrichtungen orientiert. Das Besitztum ist alles in allem zwanzig Morgen groß, vollkommen umschlossen von der oben erwähnten Steinmauer und mit Bäumen bestanden, was ihm einen gewissen düsteren Charakter verleiht. Außerdem befindet sich dort ein tiefer, dunkler Teich oder kleiner See, der offenbar von unterirdischen Quellen gespeist wird; das Wasser ist klar und fließt in einem hübsch gewundenen Bach ab. Das Haus ist sehr groß und weist alle Bauarten bis zum Mittelalter zurück auf; ein Teil ist von ungeheuer dickem Stein erbaut; die wenigen Fenster sind hoch über dem Boden angebracht und stark vergittert. Es sieht aus wie ein Gefängnis und steht in Zusammenhang mit einer alten Kirche oder Kapelle. Ich konnte nicht ins Innere derselben, da ich keinen Schlüssel besaß, der den Zutritt vom Hause aus ermöglicht hätte; aber ich machte mit meinem Kodak7 Aufnahmen von allen Seiten. Das Haus ist an die Kirche angebaut, aber in sehr weitläufiger Weise, und ich kann die Größe der Fläche, die es bedeckt, nur annähernd schätzen. In der Nachbarschaft befinden sich nur wenige Gebäude; eines davon ist sehr groß, erst kürzlich gebaut und als Privatirrenanstalt eingerichtet. Vom Grundstücke aus ist es nicht sichtbar.«
Als ich ihm diese Notizen vorgelesen hatte, sagte er:
»Es freut mich, dass es so groß und alt ist. Ich selbst stamme aus alter Familie, und das Wohnen in diesen neumodischen Häusern würde mich einfach umbringen. Ein Haus kann nicht an einem Tage wohnlich eingerichtet werden, und dann, wie viele Tage gehen dahin, bis ein Jahrhundert um ist. Es ist mir auch lieb, eine alte Kapelle dabei zu haben. Wir transsylvanischen Edelleute wollen nicht, dass unsere Gebeine zwischen denen gewöhnlicher Sterblicher ruhen sollen. Ich suche nicht Lust und Heiterkeit, nicht warmen Sonnenschein und glitzerndes Wasser, wie es die fröhliche Jugend tut. Ich bin nicht mehr jung und mein Herz ist durch die oft wiederholte Trauer um liebe Tote nicht mehr zum Frohsein gestimmt. Auch die Mauern meines Schlosses sind zerstört; es gibt viele Schatten und der Wind pfeift kalt durch zerbröckelnde Zinnen und Luken. Ich liebe das Dunkel und die Schatten und bin gern allein mit meinen Gedanken.«
Manchmal hatte ich den Eindruck, als entsprächen seine Worte nicht ganz seinen Gedanken, oder aber es lag das halb höhnische, halb schwermütige Lächeln in seinem ganzen Gesichtsausdruck.
Er stand auf und entschuldigte sich für einige Zeit, indem er mich bat, meine Papiere einstweilen wieder in Ordnung zu bringen. Als er gegangen war, betrachtete ich einige der Bücher, die herumlagen. Eines war ein Atlas; die Karte von England, scheinbar viel benützt, lag aufgeschlagen. Als ich näher hinsah, fiel mir auf, dass mehrere Orte mit kleinen Kreisen bezeichnet waren; einer an der Ostseite von London, da, wo sein zukünftiges Besitztum lag, einer bei Exeter und einer bei Whitby an der Küste von Yorkshire.
Es währte fast eine Stunde, bis der Graf zurückkam. »Ah«, sagte er, – »immer noch über den Büchern? Gut. Aber Sie dürfen nicht immer arbeiten. Kommen Sie mit; ihr Abendtisch ist meines Wissens bereit.« Er nahm meinen Arm und führte mich in das nächste Zimmer, wo ich ein vorzügliches Souper angerichtet fand. Der Graf entschuldigte sich wieder, dass er schon auswärts gegessen habe. Er saß da, wie in der Nacht vorher, und plauderte, während ich aß. Nach Tisch rauchte ich, und der Graf blieb bei mir, indem er mich über alle erdenklichen Dinge fragte. Stunde um Stunde verrann. Ich merkte, dass es wirklich sehr spät wurde, sagte aber nichts, da ich mich für verpflichtet hielt, den Wünschen meines Gastgebers in jeder Weise Rechnung zu tragen. Ich war nicht schläfrig, denn die lange Ruhe von gestern hatte mich gekräftigt, aber ich empfand unwillkürlich den Schauer, der einen bei Anbruch des Morgens befällt. Der Wechsel der Tageszeiten ähnelt in seiner Art den Gezeiten des Meeres. Man sagt, dass todkranke Menschen gewöhnlich bei Einbruch der Dämmerung oder beim Wechsel der Gezeiten sterben. Jeder, der ermüdet war, doch auf irgend einem Posten auszuharren hatte und selbst den Einfluss dieser Änderung der Atmosphäre empfunden hat, wird das sehr begreiflich finden. Plötzlich ertönte draußen ein Hahnenschrei, der mit unheimlicher Klarheit durch die reine Morgenluft zu uns drang. Graf Dracula sprang auf und sagte:
»Was, schon wieder Morgen? Welche Nachlässigkeit von mir, Sie so lange aufzuhalten! Sie müssen Ihre Unterhaltung über mein neues englisches Vaterland weniger anregend gestalten, sodass ich nicht vergesse, wie die Zeit bei uns vergeht.« Dann empfahl er sich mit einer höflichen Verbeugung.
Ich begab mich auf mein Zimmer und zog die Vorhänge zurück, aber da war wenig zu sehen. Mein Fenster ging auf den Hof, über dem das warme Grau des erwachenden Tages lag. So schloss ich das Fenster wieder und schreibe über meine Erlebnisse.
8. Mai. – Ursprünglich, als ich mein Tagebuch zu schreiben begann, fürchtete ich, zu weitläufig zu werden; jetzt bin ich aber doch froh, dass ich von Anfang an keine Details ausließ. Es ist so merkwürdig hier, dass ich mich wirklich unbehaglich fühle. Ich wollte, ich wäre wieder heil draußen oder gar nicht hereingekommen. Es mag ja sein, dass mich das ungewöhnliche Nachtleben mitnimmt; aber wenn es nur das allein wäre! Wenn ich nur jemand hätte, mit dem ich mich aussprechen könnte, dann ließe es sich leichter ertragen, aber es ist niemand hier. Da ist nur der Graf und der… ich fürchte, ich bin die einzige lebende Seele hier auf dem Schlosse. Ich will die Sache etwas nüchterner auffassen, als es die Verhältnisse irgend erlauben. Es wird mir helfen, mich aufrecht zu erhalten. Meine Fantasie darf keine Sprünge machen; wenn sie es tut, bin ich verloren. Weiter nun, was ich erlebte oder zu erleben glaubte.
Ich schlief nur wenige Stunden und erhob mich, als ich merkte, dass ich doch nicht weiterschlafen könne. Ich hatte meinen Rasierspiegel am Fenster befestigt und begann mich zu rasieren. Plötzlich hörte ich des Grafen Stimme »Guten Morgen« sagen und fühlte, wie seine Hand sich auf meine Schulter legte. Ich stutzte, denn ich hatte ihn nicht kommen sehen, obgleich der Spiegel mir ermöglichte, das ganze Zimmer hinter mir zu übersehen.