Schnaps nichts abgewinnen konnte und verkündete in wohlgesetzten Worten, die Damen aus der Stadt sollten sich von ihm zum Wein eingeladen fühlen. Gritli, die ihn dabei staunend beobachtete, strich sich feierlich über die Locken.
Obwohl die Großmutter es gar nicht gern sah, wenn ihr Onkel und sie so viel Zeit bei den Urlauberinnen verbrachten, erlaubte Sepp ihr wieder, sich mit zu den Erwachsenen zu setzen. Sie schaffte es auch diesmal, sich den herrlichsten Platz auf der weiten Welt, nämlich den an Claras Seite, zu erobern.
»Wie war ’s in der Schule?« fragte Clara und legte den Arm um sie. »Hast du deine Aufgaben auch gemacht?«
Gritli, die mit allem, aber nicht mit dieser Neugier gerechnet hatte, blickte ihren Onkel hilflos an. »Ja, schon… ein wenig.«
»Wenig? Reicht das denn?« amüsierte Clara sich.
»Sie hat eine strenge Lehrerin, die ihr das Leben recht schwer macht«, stand Sepp ihr gleich bei. »Die ist aus dem Dorf, aber sie weiß eben nicht, wie ’s hier oben zugeht. Und daß Gritli einen beschwerlichen Schulweg hat und mir die Zeit fehlt, mit ihr zu üben und sie täglich mit dem Auto runterzubringen, das schnallt die feine Frau Lehrerin erst recht nicht. Die spielt sich wie ’ne Dame auf.«
»Jaha«, stimmte Gritli erleichtert ein.
»Ich kann mir kaum vorstellen, daß es unten im Dorf eine einzige Frau gibt, die den Namen ›Dame‹ verdient«, spottete Inge, warf ihm einen abschätzenden Blick zu, ergriff einen Packen Illustrierte und setzte sich einige Meter weiter auf die Wiese.
Clara war das peinlich. Unwillkürlich zog sie Gritli noch inniger an sich heran. »Aber du mußt doch lernen, Gritli! Und wenn du willst, kommst du auch mit einer feinen Lehrerin aus, wie? Bestimmt hat
sie doch ein Herz für Kinder wie dich.«
»Nein«, erwiderte das Gritli treuherzig. »Hat sie nicht. So nett wie du ist sie nicht.«
»Du sagst es, Gritli«, lachte Sepp und versuchte Clara Baumbeer tief in die Augen zu schauen, was ihm aber nicht gleich gelang. Clara wich seinem Blick zunächst aus. Wenn Inge in der Nähe war, traute sie sich nicht, dem Bergbauern ein Zeichen ihrer Sympathie anzudeuten.
Dabei spürte sie schon seit Tagen, wie aus der Sympathie allmählich Zuneigung wurde. Der Mann wirkte so gradlinig und kraftvoll. Er hatte breite Schultern, muskulöse Beine und helle klare Augen, die ohne Falsch oder Überheblichkeit in seinem braungebrannten Gesicht strahlten. Daß er sich bemühte, abends beim Wein gute Manieren zu zeigen, gefiel ihr besonders.
Sepp Heimhofer stand mit beiden Beinen auf dem felsigen Boden seines harten Lebens. Er versuchte, mit seiner mürrischen alten Mutter zurechtzukommen und für seine kleine elternlose Nichte Verständnis aufzubringen. Konnte man mehr von einem hart arbeitenden Mann wie ihm erwarten, der als Junggeselle nirgends eine weiche Schulter zum Anlehnen fand?
Sie sah ihn nun doch an. Ihr Lächeln vertiefte sich. Nichts an ihm erinnerte an die faden Bankkunden oder Kollegen, mit denen sie beruflich zu tun hatte. Und jeder Blick und jedes seiner Worte, das ihr galt, deutete auf eine geheime Sehnsucht in seiner Männerbrust hin. Clara glaubte diese Sehnsucht zu kennen. Sie hatte sie jahrelang nicht spüren wollen, aber nun war sie wieder da. Und an diesen Abenden, wenn die Sonne hinter den Bergen versunken war und der Sepp ihr im blauen Licht der Dämmerung gegenübersaß, wurde aus dieer Sehnsucht eine leise Hoffnung auf ein stilles und ruhiges Glück, als wäre es zum Greifen nah.
»Sie haben heute wieder recht viel geschafft, nicht wahr?« fragte sie ihn.
So, als hätte er nur darauf gewartet, begann Sepp ihr sofort umständlich den Ablauf seines Almbetriebs zu erklären, sprach von der Überwinterung seiner Kühe und dem Futter, das er jedes Jahr dazukaufen mußte und daß er ohne staatliche Zuschüsse gar nicht durchhalten könne, obwohl die Milchpreise in den letzten Monaten ausnahmsweise nicht gefallen waren.
Gritli lehnte sich etwas inniger an Clara. Wie schön dieser Abend war! Warum konnte es nicht immer so sein? Onkel Sepps Gerede, das sie sonst langweilte, klang jetzt wie eine schöne Geschichte. Daß er nun jeden Abend ein frisches Hemd anzog und nicht mehr so streng roch wie sonst, das versöhnte die Kleine mit dem Mann, der nichts wie Sorgen auf den Schultern zu tragen schien und oft so schroff mit ihr umging.
»Es wird Ihnen kühl, Clara«, stellte er fest, als die erste Dunkelheit über die zackige Silhouette der
Bergriesen kroch. Er trat einfach ins Häuschen und kam mit ihrer Jacke zurück, die er ihr fürsorglich um die Schultern legte. Gritli mußte etwas von Clara abrücken.
»Und du gehst jetzt rüber und gleich ins Kämmerchen zum Schlafen, Gritli!« forderte er sie da unversehens auf.
»Jetzt schon, Onkel Sepp?«
»Ich sag ’s nur einmal. Morgen ist Schule.«
»Gute Nacht, Gritli.« Clara streckte die Arme aus und zog die Kleine an sich, um ihr einen Kuß auf die Stirn zu hauchen.
»Gute…« Mehr konnte Gritli nicht hervorbringen. Ihr Herz raste vor Glück und ihre Haut glühte, soviel Seligkeit hatte diese Zärtlichkeit bei ihr ausgelöst. Ohne sich noch umzuschauen, rannte sie zum Hof. Aber anstatt ins Haus zu gehen, schlug sie im Dunkel der Dämmerung einen Haken, wetzte um die Ecke und den Hang hoch zum Kruzifix am kleinen Felsen.
Das Kreuz nannte die Großmutter das Klageleid, denn sie kniete oft davor, um zuerst über die viele Arbeit zu jammern und danach den Herrgott um die Rückkehr ihres jüngeren Sohns Thilo oder um eine tüchtige junge Frau für ihren Sohn Sepp anzuflehen.
Gritli wußte also, wie sie es anstellen mußte, und zögerte nicht lange.
»Lieber Herzjesu«, hauchte sie mit gefalteten Händen und hockte sich schnell davor. »Mach doch, daß Clara den Onkel Sepp schön findet und bei uns bleibt. Sie ist bestimmt so gut, wie meine selige Mutter, das Hannerl, war. Und zudem auch viel, viel lieber als die Frau Lehrerin!«
Und weil ihr das nicht genug erschien, lehnte sie ihre Stirn auf den feuchten Boden und sprach stammelnd und mit vielen Pausen die drei Strophen Gedicht herunter, die sie ausnahmsweise mal gelernt hatte, um sich nicht mehr so vor der Lehrerin fürchten zu müssen. Sie wiederholte sie sogar in aller Länge und Ausführlichkeit, damit ihre Bitte auch etwas bewirkte, und tatsächlich! Beim zweiten Mal ging es schon viel besser.
Danach war sie erschöpft, aber ganz sicher, daß ihr Flehen nun erhört wurde. Also schlich sie wieder zur Hütte. Sie hoffte, Clara und Onkel Sepp schon in inniger Umarmung betrachten zu können. Hatte sie nicht gelernt, daß das Herzjesulein Wunder vollbringen konnte? Aber das Wunder ließ auf sich warten, denn was sie hörte, klang eher wie ein Unwetter.
»Du bist wohl nicht ganz bei Verstand, dich mit diesem Bauernlümmel zu einem Rendezvous zu verabreden!« hörte sie die scharfe Stimme von Inge Scholz. Gritli erstarrte vor Schrecken. Aber Onkel Sepp war nirgends zu entdecken.
»Von allen guten Geistern mußt du verlassen sein«, fuhr Inge erregt fort, »wenn du dich mit dem einläßt. Ich schäme mich für dich. Ja, und ich bereu ’s richtig, mit dir einen gemeinsamen Urlaub geplant zu haben.«
Gritli begann zu grübeln. Was war denn ein Rendezvous? Und warum schämte Inge sich für ihre wundervolle Freundin Clara?
»Ich möcht doch nur mal einige Stunden mit ihm allein sein, um ihn näher kennenzulernen«, wagte Clara einzuwenden.
»Mit ihm allein sein!« keuchte Inge entsetzt. »Hast du nicht kapiert, daß er ein richtiger Bauernlümmel ist und dazu noch unter der Fuchtel seiner alten Mutter steht? Eben hast du ’s doch miterlebt. Einmal schreit die Alte vom Hof herüber nach ihm, und schon springt er auf und rast zu ihr. Schon warst du Luft für ihn.«
»Es gefällt seiner Mutter nicht, wenn er bei uns ist.«
»Dann soll die Alte nicht an Fremde vermieten.«
»Die Heimhofers brauchen das Geld.« Clara lehnte an der Tür und schaute zum Sternenhimmel hoch. »Und wenn er für seine Mutter da ist«, sann sie leise vor sich hin, »dann zeigt das nur, daß er ein gutes