Sie sonst?«
Und während er die Wunde vorsichtig klammerte, antwortete er mit vor Konzentration gerunzelter Stirn:
»Alles … alles und nichts … Dass Sie Jean Larchers Freundin waren, natürlich.«
»Wir lieben uns seit anderthalb Jahren.«
»Das ist es eben. Als Sie sich kennenlernten, hatte er schon einen Menschen getötet.«
»Das wusste ich nicht. Als ich ihn kennenlernte, ging er viel aus und trank viel, wahrscheinlich um zu vergessen. Anfangs gefiel er mir gar nicht. Ich fand, er sei nichts weiter als ein vergnügungssüchtiger junger Mann. Dann bin ich dahintergekommen, dass das nicht stimmte, dass er ernster und liebevoller und zärtlicher war, als ich glaubte … vor allem sehr zärtlich … Wenn Sie wüssten!«
»Halten Sie ein paar Augenblicke ganz still. Sprechen können Sie trotzdem.«
»Wir waren in Paris fast immer zusammen, obwohl er noch bei seinen Eltern wohnte. Sein Vater ist ein hoher Beamter im Ministerium, ein Mann mit strengen Grundsätzen. Eines Tages hat Jean mich gefragt, ob ich ihn so sehr lieben würde, dass ich mit ihm auf dem Land leben könnte … Ich habe aus ganzem Herzen Ja gesagt.«
»Das war vor sechs Monaten?«
»Ja.«
»Das heißt, wenige Wochen bevor Jo, der Boxer, aus dem Gefängnis entlassen wurde. Der hatte ihm bestimmt schon aus dem Gefängnis geschrieben, um ihn zu erpressen.«
»Von all dem wusste ich nichts. Wir sind in die Maison-Basse gezogen, haben dort gelebt, und ich war glücklich.«
»Drei Monate lang.«
»Woher wissen Sie das?«
»Weil ich, ohne es zu wollen, Ihrem Idyll ein Ende gemacht habe … Erinnern Sie sich noch an den Tag, als ich Sie gefragt habe, ob Ihr Freund gut schlafen würde? … So, jetzt legen Sie sich auf diese Couch. Ruhen Sie sich aus. Wegen der Sache mit dem Schlafmittel habe ich nämlich alles verstanden … Drouin oder vielmehr Jean Larcher brauchte überhaupt kein Schlafmittel … Aber Jo musste ihn aufgespürt haben … Vielleicht hat er ihm sogar geschrieben, um ihm seinen Besuch anzukündigen, oder aber Larcher hat ihn in der Gegend herumstreichen sehen. Er hat seinen Besuch gefürchtet, zumal Sie dann alles erfahren würden.
Er ist zu mir gekommen, hat mich um ein Rezept für ein Schlafmittel gebeten, ›das sich in Flüssigkeit auflösen lässt‹. Mit anderen Worten: das man jemandem eingeben kann, ohne dass der es merkt.«
»Ich fand, dass der Wermut bitter schmeckte«, sagte sie. »Er hat mir gesagt, er habe ein Stärkungsmittel hineingetan. An manchen Abenden bestand er darauf, dass ich viel davon trank, und am nächsten Morgen bin ich nur mit größter Mühe wach geworden.«
»An den Abenden, an denen Jo kam! … Sie verstehen ja wohl, dass für diesen Schuft das Geheimnis, in dessen Besitz er war, Gold wert war, und er wollte gut davon leben … Bei den Treffen ging es gewiss hoch her. Er muss Summen gefordert haben, die Ihr Freund ihm nicht geben konnte.«
»Das stimmt. Allmählich bin ich dahintergekommen …«
»Durch mich. Als ich mit Ihnen über Jeans Schlaf sprach, habe ich Ihnen den Floh ins Ohr gesetzt.«
»Ich hatte ihn schon vorher verändert gefunden.«
»Sie haben seine Sachen durchwühlt und das Schlafmittel gefunden. Da war Ihnen klar, warum der Wermut so merkwürdig schmeckte und warum Sie, nachdem Sie ihn getrunken hatten, so fest schliefen … Und darum haben Sie das Schlafmittel in der Schachtel durch doppeltkohlensaures Natron ersetzt und das richtige Schlafmittel unter Ihrer Wäsche versteckt.«
»Man hat es gefunden?«, fragte sie unschuldsvoll.
»Sie haben also die Gespräche zwischen Jo und Ihrem Freund mitbekommen …«
»Zwei Gespräche, das letzte einmal ausgenommen. Die beiden glaubten, dass ich schlafe. Ich spürte deutlich, dass das böse enden würde. Ich wollte Jean nicht sagen, dass ich sein Geheimnis kannte. Ich versuchte ihn dazu zu überreden, mit mir fortzugehen, weit weg, aber er liebte unser kleines Haus über alles, wir waren dort so glücklich … Er hat gehofft, der andere würde es bald leid sein … Gestern! Denn es war gestern, auch wenn es mir jetzt vorkommt, als wäre es vor einem Jahrhundert gewesen … Jo kam, und sie haben sich gestritten. Jean erklärte, er werde ihm nicht einen Sou geben. Das wenige Geld, das er besessen habe, sei ausgegeben.
Der andere verhöhnte ihn, empfahl ihm, alles seinen Eltern zu gestehen, die, wie er sich ausdrückte, schon ›blechen‹ würden.
Schließlich haben sie sich geschlagen. Jo hat ein Messer aus der Tasche gezogen. Jean, der stärker ist, als er wirkt, konnte ihm schließlich das Messer entwinden, und dann hat er zugestochen.
Ich habe alles gehört … Eine grauenhafte Nacht. Das Hin und Her im Garten … Er glaubte, ich würde schlafen, und im Morgengrauen hat er das Haus verlassen …«
»Und mich hat er angerufen«, unterbrach sie der kleine Doktor, »damit ich käme, um Sie zu wecken. Er glaubte, er hätte Ihnen eine zu starke Dosis gegeben. Er hatte Angst um Sie. Außerdem, wenn man die Leiche entdeckte, konnte kein Verdacht auf Sie fallen, weil Sie ja noch unter der Wirkung eines Schlafmittels standen.«
Er riss jäh die Tür auf und sah Anna, die dahinter lauschte.
Er sagte nichts, runzelte nur die Stirn, schloss die Tür wieder und steckte sich mechanisch eine Zigarette an.
»Erlauben Sie?«
»Würden Sie mir bitte auch eine geben?«
»Als Arzt müsste ich eigentlich … Nun, jetzt wissen Sie, wie ich darauf gekommen bin. Von dem Augenblick an, als er mich angerufen hatte, musste ich davon ausgehen, dass ich jemanden in der Maison-Basse finden würde. Und als dort niemand war …«
»Ich bin ihm hinterher. Ich wollte ihn schützen, ihm helfen. In Rochefort hat er mich gesehen …«
»Und ist vor Angst wahnsinnig geworden! Er, der alles getan hatte, um Sie nicht zu gefährden! Und da sich nun herausstellte, dass Sie gar nicht geschlafen hatten, wurden Sie zu seiner Komplizin.«
»Das hat er auch gesagt. Er hat mir alles gestanden, mir alles erzählt. Vor zwei Jahren hatte er sich mit ein paar üblen Halunken eingelassen. Sie haben ihn überredet, bei einem Überfall mitzumachen, dem in der Rue Fontaine, dabei werde kein Blut fließen. Tatsächlich hat er aber geschossen, ohne es zu wollen, als es zu einer Schlägerei kam … Jo saß kaum hinter Gittern, da hat er schon begonnen, ihn zu erpressen. Jean musste seinen Anwalt bezahlen, ihm Geld ins Gefängnis schicken, seine Geliebte aushalten.
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