Galsan Tschinag

Ohne die Tat ist alles nur Geplapper


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vor allem Standhaftigkeit und bei den Wurzeln bleiben. Die Hellsicht, den Wert des Ursprünglichen zu erkennen und den Weg zum tieferen Sinn des Daseins einzuschlagen. Der Mut, das Wahre zu vertreten und nach der Weisheit zu suchen.

      Der Nomade ist das Kind, der Freund und der Hüter der Natur. So weiß er, mit ihr zusammen in die eigene Höhe, Breite und Tiefe gleichzeitig zu wachsen. Nicht allein Buddha ist erleuchtet worden. Nicht nur sind Mahatma Gandhi, Albert Schweitzer und andere groß gewesen. Zu großen Menschen mit göttlichen Zügen haben sich viele entfaltet. Und zu diesen gehören unbedingt unzählig viele Nomaden. Warum? Weil sie einfach richtig gelebt und so den Gipfel des menschlich Möglichen erreicht haben. Der Schöpfer erschafft uns eigentlich von Anfang an vollkommen. Wer nicht von der vorgezeichneten Bahn abspringt, hat jeden Grund, ein menschlich würdevolles Leben zu führen. Will man die nomadische Lebensphilosophie kennenlernen, hält man sich am besten an die Sprichwörter. Eines davon lautet: Schönheit ist Gabe, Erfolg ist Wille.

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      Wer etwas wirklich will, kann Schritt um Schritt wachsen. Wenn auch die Erleuchtung, die der Buddhist anstrebt, nicht für jedermann erreichbar ist, so können einige, die wir als winzige, schleimige Krümelchen die Menschengestalt annehmen, die dann als kleine, unscheinbare Klümpchen im Lebensfluss schwimmen, eines Tages sichtbar für alle auf einem Hügel stehen. Und manch einer, der sich ans Ziel besonders wacker gehalten hat, ragt am Ende aus der Menschenmenge heraus gleich einem Berg. Darum reden wir vom Menschenberg. Wie ein Kalb in einem Tiergehege ein Rind ist, bleibe ich innerhalb jeder Menschenmasse ein Nomade. Nun, wie ist dieser Nomade? Er ist sparsam. Er ist genügsam. Er ist strebsam.

      Das ist er immer, wenn es um ihn selbst geht. Die Jurte ist kein zum Bersten gefüllter Speicher. Doch kommt es hin und wieder vor, dass sie doch recht voll steht von manchen Mengen Fleisch und manchen Kübeln mit Kumys und Schnaps. Auch da weiß der Nomade, dass er mit all dem sparsam zu verfahren hat. Er ist gehorsam. Er ist behutsam. Er ist lenksam. Und das alles ist er dort, wo er sich einer Übermacht wie dem Himmel, dem Staat, dem Fluss Homdu gegenübersieht. Sich seiner Grenzen bewusst und Maß haltend.

      Auch in der Stadt hier, wo ich mich eines bescheidenen Wohlstands erfreuen darf, erlaube ich mir weiterhin nur zwei Mahlzeiten am Tag: einen Morgentee mit etwas Gebäck und ein warmes Fleischgericht, wie Nudeleintopf, am frühen Nachmittag. Manchmal meldet sich gegen Abend eine kleine Lust, etwas zu knabbern, doch ich negiere sie mit einem kleinen Lächeln nieder und erinnere mich schnell an die Worte des Dshirik Gulak: Gelingt es dir, dich selbst zu besiegen, dann bleibst du unbesiegbar. Dshirik Gulak, das war ein großer Weiser, der aus unserem Volk hervorging, ein wahrer Menschenberg. Es hat geheißen, er sei gestorben. Und das war vor gut vierzig Jahren. Aber ich selbst sah es nicht. Und mir ist, er hat in mir Wohnung bezogen. Denn sooft ich Rat brauche, höre ich seine unverwechselbare Stimme.

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      EIN MENSCHENBERG IST EIN ERLEUCHTETER, UND SO HATTEN SIE IMMER DIE VORAUSSETZUNG, WACH UND FLINK ZU BLEIBEN, IN DER LAGE, GUT ZU ARBEITEN UND BEI GEFAHR SICH ZU ERHALTEN.

      gelandet bei seiner möglichen Höchstleistung. Er kennt weder Angst noch Bitternis. Hat einen sonnenhellen Geist, ein milchweiches Gemüt und eine atemwarme Seele. Auch wenn er winterlich kalte Hände und Füße haben sollte, um sein inneres Wesen weht ständig eine sommerlich warme Brise. So einen Menschen soll und kann man nicht beleidigen, nicht kränken. Wenn ein Blöder über ihn Ungutes redet, tut der Gemeinte nichts eiliger, als ihm es schon zu verzeihen. Denn die Gabe zu verzeihen, gehört zu allen großen Wesen. So sind große Sieger schnell bereit zu verzeihen, aber nur kleine, dumme, giftige Wesen freuen sich, wenn sie einen unterm Knie spüren. So und ähnlich pflegen wir unsere Gedanken durch den Lebensalltag zu wälzen. Also ist der Nomade ein ewiger Schüler der Fachrichtung Philosophie an einer Universität, die Universum heißt, die Schöpfung heißt und die Dasein heißt. Und so denke ich, wenn es unter Sonne und Mond und den unzähligen Gestirnen immer noch im 21. Jahrhundert glückliche Menschen geben sollte, darunter sind unbedingt ein paar Steppennomaden.

      Nomaden sind im Besitz vieler guter Eigenschaften – gewiss auch einiger hässlicher. Sie sind von ihrer Natur aus kindisch neugierig, was eigentlich etwas Positives ist.

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      Aber dies führt sie manchmal auch zu Verderblichem. So ahmen sie heutzutage vieles blindlings nach, was die Städter tun. Das vor allem in der Küche. Sie essen neuerdings zu viel, stopfen sich voll wie noch nie. Denn wir Nomaden haben von Jahrhundert zu Jahrhundert mit höchstens zwei Mahlzeiten gelebt, manchmal mit einer Mahlzeit, manchmal auch nur alle zwei, drei Tage. Aber keiner war deswegen verhungert. Und dafür sind sie gesund geblieben, schlank, sehnig und flink. Und so hatten sie immer die Voraussetzung, wach und flink zu bleiben, in der Lage, gut zu arbeiten und bei Gefahr sich zu erhalten.

      ABER HEUTE: DIE ESSEN, ESSEN, ESSEN. SÜSSES ZEUG, UNGESUND, BILLIGFUTTER AUS CHINA, JUNK.

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      Und die trinken. Also wenn die einmal angefangen haben zu trinken, dann trinken die so lange, bis sie unten liegen, bewusstlos, völlig bewusstlos, ausgeschaltet, atmend, kotzende Fleischklumpen. Und dann das auch noch: Schaut man auf die rechte Türseite der Jurte, da sieht man ein Handtuch hängen, offensichtlich seit Tagen, Monaten nicht gewaschen. Die sehen so verdreckt aus und oft auch zerfranst. Wobei ein Handtuch nur einen Bruchteil von dem gesoffenen Wodka, dem gefressenen Fleisch kostet.

      MONGOLEI – UNSERE WELT HEUTE

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      Über die Geschichte jedes Landes, so auch der Mongolei, lässt sich alles Mögliche sagen. Was genau das ist, hängt davon ab, wer da spricht und zu welchem Ziel er es tut. Also, über unser altes, geschichtsträchtiges Land ist in den letzten Jahren so viel Beifälliges wie auch Aussetzendes gesagt und geschrieben worden. Wobei das Erstere die dschingisisch blauen sieben Jahrhunderte und das Letztere die revolutionär roten sieben Jahrzehnte betrifft. Und jede dieser Behauptungen war auf eine Art einseitig. So kann das, was ich nun von mir geben werde, auch nicht ganz frei von jener Befangenheit sein, aber ich werde gleich auch den Grund nennen, wieso ich solches tun will:

      In der letzten Zeit ist die rohe Gewalt, die Seele unserer früheren Geschichte, so sehr verherrlicht worden, und nun möchte ich dagegen den Geist stellen. Vom Winkel des Geistes also war die bevölkerungsarme, materiell schwache Mongolei im Begriff, zu einer Wohnstätte des Wissens zu werden. Jeder hatte zu lernen, zu lernen und nochmals zu lernen, wie der Revolutionsführer Lenin es uns ans Herz gelegt hatte. Und dafür musste man viel lesen. So war man leselustig, lesehungrig, lesewütig. Das war unsere Wirklichkeit vor 20 Jahren. Und davon ist immer noch etwas geblieben.

       Ja, so manche älteren Menschen, darunter auch einfache Nomaden, haben in sich mehr Wissen gespeichert als Hochschulprofessoren, Philosophen an manchen anderen Ecken des Planeten. Wieso treten denn die Nomaden, diese einfachen Jäger, Schäfer, Wächter, mit solchem Wissen auf?

      Hinzu kommt, dass unsere Menschen auch noch von alters her erzählen und zuhören können. Dieser vom kommunistischen Weltexperiment be-einflusste nomadisch-mongolische Hintergrund erschafft ein für viele europäisch-amerikanische Geister unglaubwürdiges Spielfeld. Nämlich, ich werde von so manchen meiner Lektoren schnell kritisiert, unrealistisch mit dem Leben zu verfahren: Wieso treten denn die Nomaden, diese einfachen Jäger, Schäfer, Wächter, mit solchem Wissen auf? Wo sie doch in ihrer Abgeschiedenheit