Claudia Hildenbrandt

Reise Know-How ReiseSplitter Jesus liebt Radfahrer – Navid auch


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Situationen aus der Klemme helfen, uns zum Weitermachen antreiben. „Pay it forward!“, „Gib’s weiter!“, bitten uns viele US-Amerikaner: Wir helfen euch, damit ihr wiederum anderen zur Seite steht. In diesem Sinne soll das Buch inspirieren.

      Außerdem skizzieren wir Frauen und Männer, die uns mit ihrem Mut und ihrer Haltung Kompass und Wegweiser sind. Constanza, die die verkauften Kinder Chiles findet. Dean, der als Rentner niemals seine Neugier verliert. David, der Südpol-Ingenieur. Claris, die einen Erdrutsch überlebte und „Ferne“, ein stiller Protestler in China.

      „Staunt euch die Augen aus dem Kopf, lebt, als würdet ihr in zehn Sekunden tot umfallen. Bereist die Welt. Sie ist fantastischer als jeder Traum, der in einer Fabrik hergestellt wird.“ Autor Ray Bradbury feuert zum Leben, zum Reisen und Lernen an. Mögen die Geschichten in diesem Buch zünden. Mögen sie erstaunen, verstören, wissbegierig und weltwach machen.

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       MARKTFRAU IN BUCHARA USBEKISTAN

       JESUS LIEBT RADFAHRER – NAVID AUCH

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       „Warum hast du uns geholfen?“, wollen wir wissen. „Allah hat mir einen Wink gegeben und gesagt: Da vorne, die Radfahrer brauchen Hilfe. Frag’ mal, was los ist.“

      Im Landeanflug beginnt das Verkleiden. Der Iran duldet keine bloße Haut und keine sichtbaren Haare. Dunkle Blusen, lange Tücher. Die Schöne neben mir verwandelt sich in einen Geist. Sie kennt das Spiel, ich nicht. Linkisch setze ich mein Tuch auf, fühle mich klein und entfremdet von mir selbst und der Lächerlichkeit preisgegeben, wie schon als Kind im Karnevalskostüm. Ich schäme mich, vor Daniel, vor mir selbst und starre auf den Boden. Auch Daniel sagt kein Wort, ist nervös. Still verlassen wir den Flieger. Iran, das erste Land unserer Reise.

      „Iran, nicht Irak.“

      Jetzt also hier, wo es „keinen Krieg und keine Anschläge gibt“, wo „alles safe“ ist. Nichts konnte die Sorgen unserer Eltern mindern. Auch wir waren ängstlich, doch der Flug günstig und die Neugier auf ein muslimisches, ein verrufenes Land drängte.

      Jetzt also hier, am Flughafen in Teheran. Der Kontrolleur lächelt und ich komme durch, Daniel nicht. Es piept, der Polizist schaut erschrocken. Er prüft Daniels Pass, zweimal, dreimal. „Mister, Mister, big problem, big problem. Interpol. Interpol!“ Unsere Reise steht vor dem Aus, bevor sie begonnen hat.

      Daniels Pass: gestohlen, warnt der Computer. Warum, wissen wir nicht. Es ist Mitternacht und Interpol schläft. Kein anderer kann seine Unschuld versichern. Alles rauscht vorbei, Männer, Frauen. Polizisten hasten auf uns zu. Hier und jetzt ist Daniel ein Verbrecher. „Sit down. Shut up!“, bellt ein Bewaffneter – nur ein Dummkopf würde rebellieren.

      Stunden kauern wir auf unseren Plätzen. Er eingeklemmt zwischen Wachmännern, ich bei unserem Gepäck. Zu müde, zu matt, um zu verzweifeln. Warten. Dösen. Warten. Irgendwann wird es draußen hell. Dann der Anruf: Interpol gibt grünes Licht, und die Polizei Daniel endlich, endlich frei.

      Jetzt keine Zeit mehr vertrödeln. Zügig bauen wir die Räder zusammen und machen uns auf den ersten Metern mit der Autobahn vertraut. LKWs dröhnen, Busse knattern an uns vorbei, die Fahrer immer einen Finger an der Hupe. Ein Seitenstreifen schützt nichts weniger als unser Leben. Die Sonne knallt und der Gegenwind schmeckt nach Diesel. Bloß weg von hier, abfahren. Wir verfransen uns im Industrie-Irrgarten der Hauptstadt, nicht ganz das Ziel von Touristen. Keiner kann helfen. Kilometer für Kilometer fahren wir blind, orientierungslos. Es beginnt zu dämmern. Plötzlich hält ein verschrammter Renault und ein Mann mit Vokuhila kurbelt die Scheibe herunter. „My name is Navid. Need help?“ Navid: nie verheiratet, keine Kinder, einst Kioskbesitzer in New York. Er eskortiert uns zu seiner Wohnung mit schiefer Tür und geflickten Fenstern, öffnet den Kühlschrank und reicht Bier – Schmuggelware aus der Türkei, für acht Dollar die Flasche. Ein Segen, wenn auch ein verbotener in Iran. Als seine Eltern Hilfe brauchten, kehrte Navid nach Teheran zurück. Seine Schwester sei noch immer in den Staaten, wage sich aber wegen Trumps travel ban nicht mehr aus dem Land – aus Angst, nie wieder hinein zu dürfen. Wir sollten über Nacht bleiben, beharrt Navid und scheucht die Hühner aus dem Schlafzimmer. Am nächsten Morgen weist er uns den Weg aus dem Industrie-Wirrwarr. „Warum hast du uns geholfen?“, wollen wir wissen. „Allah hat mir einen Wink gegeben und gesagt: Da vorne, die Radfahrer brauchen Hilfe. Frag mal, was los ist.“

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       MIKE AUS RIDGECREST, KALIFORNIEN

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       HIER WIRD CLAUDIA UNSICHTBAR MOSCHEE IN GONBAD-E KAVUS, IRAN

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       GORGAN, IRAN

      Ein knappes Jahr später, beim Erzfeind des Iran: in den USA. Kurz vor der Querung des Death Valley hält uns ein Sandsturm gefangen, in Ridgecrest, Kalifornien. Die Stadt scheint zu verrosten, Vernunft und Ekel verbieten das Kampieren zwischen Müllkippen, Fastfood-Buden und ausgezehrten Kötern. Wieder kurbeln wir orientierungslos, wieder dämmert es. Erst einmal einkaufen, es muss sich was ergeben! „Schau mal ein bisschen traurig und dumm“, instruiere ich Daniel, bevor ich mich im Supermarkt verlaufe. Und er macht seinen Job glänzend. Mike lädt uns in das Haus seiner Schwiegermutter ein. Die sei kürzlich verstorben, wir könnten so lange bleiben, wie wir wollten. Das Bett sei frisch bezogen und das Badezimmer vorgeheizt. „Bedient euch in der Vorratskammer, da stehen noch tonnenweise Pasta, Oliven, Dosenobst – und Bier.“ Mike und seine Frau Debby erzählen von ihrem Sohn – kurz nach dem 18. Geburtstag überrollt von einem LKW. Am Gottvertrauen halten sie sich bis heute fest. „Ich bin eigentlich gar nicht der Typ, der Fremde einlädt“, gesteht Mike. „Debby meinte, ich sei nun völlig verrückt.“ Warum er uns dann geholfen habe, wollen wir wissen. „Jesus hat mir einen Wink gegeben und gesagt: Da vorne, die Radfahrer brauchen Hilfe. Frag mal, was los ist.“

      Zurück in Iran, zu Beginn der Reise: Ich trample auf Gardinenstoff und schwitze wie in einem Clownskostüm. Hier reicht das Kopftuch nicht, hier gängelt man mit einem Umhang. Schon am Eingangstor war eine Pförtnerin auf mich zugeeilt, den Stoff in der Hand. Sie hatte keine Gnade mit mir, auch nicht bei 36 Grad. Imam Rezas Schrein in Mashhad: Ein heiliger Ort, den ich heute am liebsten verwünschen würde. 20 Millionen pilgern jährlich hierher. Immer wieder auf den Umhang tretend, stolpere ich zur Taschenkontrolle. Ich muss aus meiner Wasserflasche trinken – die einfachste Sprengstoffprobe der Welt. Eine schwarz verschleierte Frau tastet mich ab. Woher ich käme, ob ich Kinder habe, fragt sie und streicht sanft meinen Tschador glatt. Sie meint es gut. Bevor ich hinaus darf, umfasst sie meine Hände: „Bitte, geh nach Hause und erzähle deiner Familie und all deinen Freunden, dass wir keine Terroristen sind.“

      12.000 Radkilometer entfernt, wieder beim Rivalen, wieder in den USA: „We would like to further assist you in your journey“, mailt uns Rebecca, die uns ein Stück im Wohnwagen mitgenommen hatte. Zwei Tage spendieren sie und ihr Ehemann einen Campingplatz mit Swimmingpool: „Kids, sleep well. Tomorrow we gonna watch the sunrise.“ Mit ihren Söhnen hätten sie im Urlaub auch immer den Sonnenaufgang angesehen. Wir spielen das Spiel mit, sind gerne wieder Kinder: bemuttert, beschützt, zu Hause für den Moment. Zum Frühstück dürfen wir uns bergeweise Pancakes auf die Teller laden. Später ertappe ich Rebecca, wie sie 60 Dollar Taschengeld in meiner Radtasche versteckt. Beim Abschied tragen wir beide Sonnenbrillen – als Tränensichtschutz. Sie drückt mich und umfasst meine Hände: „Geht nach Hause und erzählt euren Familien und all euren Freunden, dass wir nicht so sind wie unser Präsident.“

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