Georges Simenon

Schlusslichter


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in den Augen gehabt hatte. Aber das war belanglos, abgesehen davon, dass sie das Radio ausmachte, ohne ihn zu fragen, denn gerade so unbedeutende Nebensächlichkeiten können einen …

      Wo waren sie stehengeblieben, als Nancy den Streit unterbrochen hatte? Bei Dick Lowell, der eine Freundin von Nancy geheiratet hatte. Manchmal verbrachten sie einen Abend zusammen.

      Alles Quatsch! Wozu noch lang diskutieren? Kümmerte Dick sich vielleicht um die Meinung seiner Frau? Es war seine eigene Schuld, dass er ständig ängstlich überlegte, was sie wohl denken mochte, und immer auf ihre Zustimmung aus war.

      »Was machst du jetzt?«

      »Das siehst du doch. Ich halte an.«

      »Hör zu …«

      Die Bar machte einen heruntergekommenen Eindruck. Die davor parkenden Autos waren allesamt alte Schrottkisten, was seine Lust hineinzugehen nur erhöhte.

      »Ich warne dich«, sagte Nancy und betonte dabei jede Silbe. »Wenn du aussteigst, fahre ich allein weiter.«

      Er war schockiert und sah sie einen Moment ungläubig an. Sie hielt seinem Blick stand. Sie wirkte noch genauso frisch und adrett wie bei der Abfahrt in New York. Eiskalt, das Aas, dachte er.

      Vielleicht wäre nichts geschehen und er hätte die Segel gestrichen, wenn sie nicht hinzugefügt hätte:

      »Du kannst ja mit dem Bus weiterfahren.«

      Er spürte, wie ihm ein eigenartiges Lächeln um die Lippen spielte. Auch er war ganz ruhig, als er die Hand nach dem Zündschlüssel ausstreckte, ihn abzog und in die Tasche steckte.

      Noch nie war ihnen so etwas passiert. Er konnte nicht mehr zurück. Er war überzeugt, dass sie eine Lektion verdient hatte.

      Er stieg aus und schlug die Wagentür zu, ohne seine Frau anzusehen. Er versuchte, mit sicherem Schritt zum Eingang der Bar zu gelangen. An der Tür drehte er sich um: Sie hatte sich nicht von der Stelle gerührt, und er sah durchs Seitenfenster ihr blasses Profil.

      Er trat ein. Gesichter wandten sich ihm zu, die hinter den Rauchschwaden leicht verzerrt wirkten. Als er die Hand auf die Theke legte, fasste er in einen feucht-klebrigen Alkoholrest.

      2

      Während er vom Eingang in Richtung Tresen ging, war die Unterhaltung an den Tischen verstummt, das Stimmengewirr, das eben noch den Raum erfüllt hatte, war plötzlich abgeklungen wie beim Schlussakkord eines Orchesters. Alle waren reglos an ihrem Platz sitzen geblieben und hatten ihm, weder feindselig noch neugierig, nachgeblickt; auf den Gesichtern war kein Ausdruck zu erkennen.

      Sobald er die Hand auf den Tresen gelegt und der behaarte Arm des Barkeepers mit einem schmutzigen Lappen vor ihm entlanggewischt hatte, war das Leben wieder zurückgekehrt, und keiner schien sich mehr um ihn zu kümmern.

      Das alles hatte ihn verwirrt. Die Bar machte einen völlig anderen Eindruck als die üblichen Bars an der Straße. Es musste ein Dorf in der Nähe sein oder eine kleine Stadt, wahrscheinlich eine Fabrik, denn es waren unterschiedliche Akzente zu hören, und zwei Schwarze lehnten neben ihm am Tresen.

      »Was darf’s denn sein, Fremder?«, fragte der Mann hinter der Theke.

      Das sollte anscheinend kein Scherz sein. Seine Stimme klang herzlich.

      »Rye!«, murmelte Steve.

      Diesmal ging es ihm nicht um den stärkeren Schnaps. Er nahm Rye, weil es hier aufgefallen wäre, wenn er Scotch bestellt hätte. Er wollte Nancy nicht zu lang allein lassen. Er durfte aber auch nicht zu schnell zum Wagen zurückgehen, um das, was er durch sein Verhalten erreichen wollte, nicht gleich wieder zu verspielen.

      Er staunte selbst über seine Unerbittlichkeit. Fast hätte er sich seines Verhaltens geschämt, wenngleich er im tiefsten Innern überzeugt war, im Recht zu sein und seiner Frau eine Lektion erteilen zu müssen.

      Sie war schuld daran, dass er Lokale wie dieses hier fast nie betrat. Er sog gierig den Geruch ein, besah sich die dunkelgrünen Wände mit den alten Farbdrucken und blickte durch die geöffnete Tür in die unaufgeräumte Küche, wo eine Frau, der die grauen Haare ins Gesicht hingen, zwei anderen Frauen und einem Mann zuprostete.

      Über dem Tresen hing ein alter Fernseher. Die zittrigen, abgehackten Bilder, die über den riesigen Bildschirm liefen, erinnerten an Stummfilme. Aber niemand schaute hin. Fast überall wurde laut geredet. Der eine Schwarze neben ihm stieß ihn ständig an, wenn er beim Sprechen und Gestikulieren einen Schritt zurücktrat, und entschuldigte sich dann jedes Mal unter großem Gelächter. Am Ecktisch saß eng umschlungen ein nicht mehr ganz jugendliches Liebespaar. Wange an Wange schmiegten sie sich aneinander, unbeweglich wie auf einem Foto, schweigend, den Blick ins Leere gerichtet.

      Nancy würde das nie verstehen. Ihm selbst würde es schwerfallen, ihr zu erklären, was es da zu verstehen gab. Sie nahm an, dass er angehalten hatte, um etwas zu trinken. Aber das stimmte nicht ganz, war wieder einmal nur ihre Wahrheit.

      Er war ihr nicht böse. Er fragte sich, ob sie weinte, so allein im Wagen, zog eine Dollarnote aus der Tasche und legte sie auf die Bar. Es war Zeit zu gehen. Er war ungefähr fünf Minuten geblieben. Auf dem Bildschirm erschien das Foto eines etwa vierjährigen Mädchens, das zwischen Besen und Eimern in einem Wandschrank kauerte; er achtete nicht auf den Kommentar, das Bild verschwand, als Nächstes tauchte ein Schaufenster mit zerbrochener Scheibe auf.

      Er nahm das Kleingeld und wollte sich gerade umdrehen, als ihm jemand auf die Schulter tippte und langsam sagte:

      »Der Nächste geht auf meine Rechnung, mein Lieber!«

      Es war der Mann rechts von ihm, den er bisher nicht beachtet hatte. Er war allein, hatte die Ellbogen auf den Tresen gestützt, und als Steve ihn ansah, erwiderte er den Blick geradezu herausfordernd. Er musste viel getrunken haben. Seine Zunge war schwer und seine Bewegungen vorsichtig, als wüsste er, dass er sich auf seinen Gleichgewichtssinn nicht mehr verlassen konnte.

      Steve war versucht, mit dem Hinweis auf seine wartende Frau wegzugehen. Der Mann erriet offenbar seine Gedanken, wandte sich an den Wirt hinter der Bar und wies auf ihre beiden leeren Gläser. Der Barkeeper machte Steve ein Zeichen, das so viel heißen sollte wie:

      ›Das können Sie ruhig annehmen.‹

      Vielleicht bedeutete es sogar:

      ›Das sollten Sie lieber annehmen.‹

      Er war keiner von den grölenden Säufern. War er überhaupt ein Säufer? Sein weißes Hemd war so sauber wie das von Steve, das blonde Haar frisch geschnitten, und in dem gebräunten Gesicht kamen die hellblauen Augen besonders zur Geltung.

      Er hielt den Blick auf Steve gerichtet und hob sein Glas. Steve hob seines ebenfalls und leerte es in einem Zug.

      »Danke, meine Frau …«

      Er wagte nicht weiterzureden, wegen des Lächelns, das dem anderen übers Gesicht huschte. Der Mann sah ihm immer noch ins Gesicht und sagte nichts. Man hätte glauben können, dass er alles wusste, dass er ihn so gut kannte wie ein Bruder und ihm seine Gedanken von den Augen ablas.

      Er war betrunken, zugegeben, hatte dabei aber die bitter lächelnde Abgeklärtheit eines Menschen, der in Gott weiß welche Regionen höherer Erkenntnis vorgestoßen war.

      Steve hatte es eilig, zu Nancy zurückzugehen. Gleichzeitig fürchtete er, diesen Mann zu enttäuschen, den er nicht kannte und der ungefähr sein Alter haben musste.

      Der Bar zugewandt sagte er:

      »Noch mal das Gleiche!«

      Er hätte gern etwas gesagt, wusste aber nicht, worüber er reden sollte. Seinem Nachbarn war das Schweigen nicht unangenehm, und er fixierte ihn zufrieden, als ob sie alte Freunde wären, die sich auch ohne Worte verstehen.

      Wie betrunken er war, wurde offensichtlich, als er mit zitternden Händen versuchte, sich eine Zigarette anzuzünden. Er merkte es selbst, und sein Blick und die Art, wie er den Mund verzog, sagten ganz klar:

      ›Ich hab getrunken,