Werner Stilz

Darum in die Ferne schweifen


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teil, zu der ich mich im Oktober 2017 angemeldet hatte. Den Hinweis darauf entnahm ich dem örtlichen Amtsblatt. Wir sind eine Gruppe von zehn bis zwölf Patienten, zur Hälfte männlich und weiblich. Während der Gymnastik sitzen wir auf Stühlen im Kreis. Angeleitet von einer Übungsleiterin, machen wir Dehn- und Streckübungen, im Stehen und Sitzen. Die Übungen sind einfach, damit alle Anwesenden sie mitmachen können, ganz unabhängig davon, wie weit die Pechkrankheit schon fortgeschritten ist. Außerdem marschieren wir viel auf der Stelle. Einmal im Monat gehen wir zusammen in ein nahegelegenes Restaurant zum Mittagessen. Leiter der Gruppe ist Berthold. Er ist von Anfang an dabei, nicht als Betroffener, sondern als Angehöriger. Seine Frau litt sieben lange Jahre an der Krankheit. Er betreute sie liebevoll und leitete gleichzeitig die Parkinson-Gruppe. Auch nachdem seine Frau inzwischen verstorben ist, macht er weiter. Neulich erwähnte er, dass er selbst Prostatakrebs hat, wegen seines hohen Alters – er ist 83 – aber nicht mehr operiert wird. Ein herzensguter Mensch, der über seine eigenen Probleme nicht groß redet.

      Bei einigen von uns muss man genau hinsehen, um Parkinson-Symptome zu entdecken. Andere sind bereits gezeichnet, wie zum Beispiel Manfred, der im Pflegeheim wohnt, in dem die Gymnastik stattfindet. Er sitzt im Rollstuhl und kann Arme und Beine nur wenig bewegen. Trotzdem ist er jedes Mal dabei. Bei Herbert, erst 60 Jahre alt, ist das Sprechvermögen stark eingeschränkt. Vor einem halben Jahr stürzte er fatal und zog sich einen Oberschenkelhalsbruch zu. Auch er ist seitdem an den Rollstuhl gefesselt. Bei sich zu Hause hat er einen Treppenlift einbauen lassen.

      Doris ist regelmäßige Teilnehmerin. Ihr Mann, den sie begleitete, verstarb vor ein paar Jahren. Drei weitere Teilnehmerinnen sind keine Betroffenen, begleiten aber ihre Männer zu unseren Treffen. Wobei natürlich auch die Ehegatten auf ihre Art Betroffene sind.

      Neulich erst kam ein Ehepaar zum »Schnuppern« in die Runde. Es waren Josef und Helga, zwei alte Bekannte aus meinem Dorf. Josef und ich waren lange Jahre im Gesangverein Etzenrot aktiv. Beide wussten wir nicht voneinander, dass wir von der gleichen Krankheit betroffen sind. Statt der gemeinsamen Leidenschaft für das Singen führt uns nun ein gemeinsames Leiden zusammen. Ein Leiden, das uns auf beklemmende Weise gleichmacht. Mehr und mehr bemerke ich, wie wichtig es ist, meine Individualität zu behaupten.

      Teil I

      Kindheit und Jugend

       Meine schwäbische Herkunft

      Am 5. Oktober 1943 wurde ich in Schorndorf geboren, einer Kleinstadt 30 Kilometer östlich von Stuttgart. Mein Vater war im Kriegsdienst, meine Mutter schon 39 Jahre alt und ich eine schwierige Geburt. Die Hebamme benötigte ein Zangeninstrument, um mich auf diese Welt zu zerren. Größere Schäden trug ich offenbar nicht davon.

      Mein Bruder Rolf war schon zwölf Jahre alt. Wie ich später hörte, kümmerte er sich fürsorglich um mich, den Nachzügler. Zur Familie gehörte außerdem der zehnjährige Heinz. Er war der uneheliche Sohn von Anne, der jüngeren Schwester meiner Mutter. Meine Eltern nahmen ihn zu sich und behandelten ihn wie ihr eigenes Kind. Seine leibliche Mutter verkraftete die »Schmach«, ein uneheliches Kind zu haben, nicht. Viele Jahre war sie Patientin in der Nervenheilanstalt in Winnenden. Erst nach der Menopause konnte sie ein normales Leben führen. Sie fand ihren inneren Frieden als Helferin in einem Altenheim.

      Unsere Wohnung befand sich im Obergeschoss eines Backsteingebäudes, das zu einem weitläufigen Ziegeleigelände gehörte. Im Erdgeschoss verfügte es über zwei Garagen. Dort waren Lastwagen und Anhänger der Ziegelei untergebracht. Unweit von unserem Haus standen große Stallungen für Pferde und Kühe, sowie Scheunen für Heu und Stroh. Es war damals nicht unüblich, dass größere Firmen neben ihrem eigentlichen Gewerbe auch eine Landwirtschaft betrieben.

      Die Ziegeleibesitzer Arnold und Groß besaßen auch Weinberge am Schorndorfer Grafenberg. Mein Vater war als ihr Weingärtner beschäftigt. Nebenher bewirtschafte er auch einen eigenen kleinen Weinberg von 20 Ar. Während er an der Front war, kümmerte sich meine Mutter darum. Rolf und Heinz halfen mit, wenn sie schulfrei hatten. Mit dem Handleiterwagen ging es zu Fuß zum etwa anderthalb Kilometer entfernten Weinberg. Klein und leicht korpulent, war der Weg zum Weinberg für meine Mutter eine Strapaze, schließlich ging es stetig bergauf. Die schweren Arbeiten, wie das Schneiden der Reben im Winter oder das Spritzen gegen allerlei Blattkrankheiten im Sommer, übernahmen Weingärtner, die wegen ihres Alters oder aus anderen Gründen nicht zum Kriegsdienst eingezogen wurden. Alle Weingärtner, ob im Vollerwerb oder Nebenerwerb, waren Mitglieder der örtlichen Weingärtnergenossenschaft. Es war selbstverständlich, dass man sich gegenseitig in den schwierigen Kriegszeiten unterstützte.

      Da wir abseits vom Städtchen wohnten, gab es keine Kinder in meinem Alter, mit denen ich hätte spielen können. Rolf und Heinz dagegen waren mit den etwa gleichaltrigen Fabrikantensöhnen befreundet. Doch die ledigen Knechte im landwirtschaftlichen Betrieb trieben ihren Spaß mit mir. Sie prägten mir ein, dass ich, wenn man mich nach meinem Geburtstag fragt, antworten sollte: »Wenn die Trauben reif sind.« Wenn dann die Frage kommt: »Ja, wann sind sie denn reif?«, sollte ich sagen: »An meinem Geburtstag!«

      Wenn sie arbeitsfrei hatten, waren die Knechte meine »Spielkameraden «. Meine Spielplätze waren die Heuschober und die Stallungen mit den Kühen und Pferden, letztere wurden als Zugpferde gehalten.

      Gegen Ende des Krieges geriet mein Vater zuerst in französische, später in amerikanische Gefangenschaft. 1946 kehrte er zu seiner Familie zurück. Wie mir erzählt wurde, stand er eines Tages vor der Tür, abgemagert, mit Vollbart und in einen alten dreckigen Armeemantel gehüllt. Meine Mutter erkannte ihn nicht und fragte: »Was wollen Sie?«

      Doch Heinz, der zur Tür kam, rief: »Das ist doch der Vater!«

      Wie muss er sich da gefühlt haben, nach den Gräueln von Krieg und Gefangenschaft – als Fremder vor dem eigenen Haus, vor der eigenen Frau?

      Nach einem ausgiebigen Bad in der Zinkbadewanne, die in der Küche aufgestellt wurde, konnte er seine Familie, um einen Stammhalter vergrößert, so richtig in die Arme nehmen.

       Die Stilz-Familie

      Mein Vater Robert Stilz wurde 1905 als sechstes von sieben Kindern des Weingärtners und Bauern Gottlob Stilz und dessen Frau Martha geboren. Gottlob, mein Großvater, stammte aus dem kleinen Weindorf Schnait im Remstal. Weinbau und Landwirtschaft warfen zu damaliger Zeit keine Reichtümer ab, die meisten dieser Kleinbauern hatten gerade genug zum Überleben. Der Hauptgrund für das eher armselige Leben war die in Württemberg praktizierte Erbteilung: Der Besitz der verstorbenen Eltern, Weinberge, Äcker und Wiesen, wurde unter allen Nachkommen – und das waren zu jener Zeit nicht wenige – mehr oder weniger gerecht geteilt. In der Folge schmolz der Grundbesitz für die einzelnen Erben immer mehr. Manchmal zahlte einer der Söhne seine Geschwister aus, um den kleinen Hof als Ganzes übernehmen zu können. Dazu musste er sich in der Regel Geld durch Kredite und Darlehen besorgen und auf lange Zeit verschulden. Im 19. Jahrhundert versuchten daher viele Schwaben, wie auch die Badener und Pfälzer, ihr Glück und ein auskömmliches Leben durch Auswanderung, hauptsächlich nach Amerika, zu finden.

      Gottlob schlug einen anderen Weg ein. Er verließ schon früh sein Heimatdorf und bewarb sich in Stuttgart erfolgreich als Weingärtner für das städtische Weingut. Ob es seine imposante Erscheinung, Charme oder einfach Glück war, weiß ich nicht, doch er fand im Stuttgarter Vorort Sillenbuch die Frau fürs Leben. Dass Martha, aus dem florierenden Elektrogeschäft Löffler stammend, eine ordentliche Mitgift in das eheliche Glück einbrachte, gereichte dabei nicht zum Schaden. In Sillenbuch bezog das junge Ehepaar eine städtische Mietwohnung. Dort kamen auch ihre Kinder zur Welt.

      Als fleißige und sparsame Leute schafften Gottlob und Martha es, sich in Schorndorf eine eigene Existenz mit einem stattlichen Bauernhaus, einem Weinberg, Äckern und Wiesen aufzubauen. Mit der Zeit wurde es ein ordentliches Anwesen, das sich sehen lassen konnte. Großvater beeindruckte nicht nur durch seine stattliche Erscheinung. Er konnte auch gut reden. Es ist daher nicht verwunderlich, dass er schon bald der Ortsbauernführer von Schorndorf wurde.

      Familie Gottlob und Martha Stilz, um 1920. Die Kinder, von links:

      Paul,