K.R.G. Hoffmann

AUFRECHT IN BERLIN


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sorge ich für einen sich über den gesamten Durchmesser ausbreitenden Anbrand.

      Nach dieser Prozedur hebe ich wieder den Blick. Ich schaue in das offene Gesicht des Beobachters. Da drückt sich so viel Sympathie aus, dass es mir wie die Erfüllung eines Wunschs vorkommt, just in diesem Augenblick von ihm angesprochen zu werden.

      „Gutes Teil das, Herr Nachbar – sieht nach Havanna aus.“

      „Man gönnt sich ja sonst nichts, Herr Nachbar, scheinen ja den gleichen Geschmack zu haben.“

      „Wenn es Sie nach Unterhaltung gelüstet, geben Sie mir die Ehre und setzen Sie sich her.“

      Mir gefällt die leicht ins Ironische überkippende Ansprache.

      „Gerne, augenblicklich zu tun das Beste!“, erwidere ich im selben Duktus.

      Im Aufstehen, das Bierglas mit dem Unterdeckel in der einen und die Zigarre zwischen drei Fingern der anderen Hand, gehe zu seinem Tisch. Stehend begrüßen wir uns und nehmen dann einander gegenüber Platz.

      ER Berliner - ICH Berliner, frotzelnd, - landsmannschaftliches Treffen. ICH vier Jahre älter, beide studiert und, wie man so sagt, augenscheinlich gut drauf.

      ER, von einer Lesehilfe abgesehen, brillenlos.

      ICH mit randlosen gleitsichtigen 6 Dioptrien ausgestattet.

      Beide in Sommerweste.

      ER trägt ein Hemd mit Umschlagmanschetten und eine über jeden Zweifel erhabene, von Hand gebundene Seidenfliege.

      ICH mit offenem Kragen und umgeschlagenen Hemdsärmeln. Gespannt und neugierig suchen wir nach Schnittstellen in den zurückliegenden sieben Jahrzehnten.

      Beide hatten wir es beruflich mit Menschen zu tun.

      ER ein WOSSI - ICH ein WOSSI.

      Die Begriffe WESSI, OSSI und WOSSI haben sich für uns Deutsche im geographisch und politisch geteilten Vaterland entwickelt. WESSIS, das waren Leute, die im Westen lebten. OSSIS wohnten in der ehemaligen DDR. WOSSI ist die Kombination von beiden und setzt in Sprache um, sowohl in der DDR als auch im Westen gelebt zu haben. Man bediente sich der drei Termini hüben wie drüben - nicht immer wertfrei. ER und ICH, Bürger einer wieder zusammenfindenden Nation, erinnern sich dieser Termini, zufrieden darüber, dass sie heute kaum noch, höchstens auf Kalauerniveau, gebräuchlich sind.

      ER aus Berlin-Britz stammend, im Bezirk Friedrichshain aufgewachsen, fünf Jahre nach dem Mauerbau beim zweiten Fluchtversuch in den Westen gelangt, Student, junger Wissenschaftler, Unternehmer, Manager, Designer, Rentner.

      ICH ursprünglich aus Berlin-Mitte. Meine Mutter lebte nach dem Krieg ohne Mann - ich ohne Vater. Der, Berufssoldat, galt seit den letzten Abwehrschlachten vor Berlin auf den Seelower Höhen 1945 als vermisst. Um die tausend Aufbaustunden hatte Mutter als Trümmerfrau geleistet, wurde dafür prämiert, und der Sohn durfte bis zum Abitur auf die Oberschule. Für meine Zulassung an die Universität hatte Mutters Trümmerfrauen-Bonus kein Gewicht mehr. Ich hatte kein Pioniertuch getragen und war nicht Mitglied der Freien Deutschen Jugend. 'Mangelnde gesellschaftliche Mitarbeit', so lautete die Begründung für die Nichtzulassung an die Humboldt-Universität.

      In Westberlin dauerte die Schulzeit bis zum Abitur 13 Jahre. Das Ostberliner Abitur nach 12 Jahren reichte nicht für die Immatrikulation an den Universitäten in West-Berlin und dem übrigen Bundesgebiet. So ging ich für das 13. nach West-Berlin - wohnte aber weiter in Ostberlin, bei Muttern in der Reinhardstraße, nur eine S-Bahnstation von meiner neuen Schule in Tiergarten entfernt. Mein nunmehr zweites Abitur, in den Naturwissenschaften eine ganze Note besser als mein Ost-Abitur, war jetzt die Eintrittskarte zur Immatrikulation an der Freien Universität, Fachrichtung Germanistik und Geschichte, Lehramt. Wohnort blieb weiter Hotel „Mutter“. Mitte August 1961 wurde die Mauer gebaut. Mit der geborgten Identität eines Kommilitonen, der aus Hessen stammte, konnte ich zwei Wochen später - das DDR-System arbeitete noch an der Undurchlässigkeit seiner Einmauerung - in den freien Teil Berlins flüchten. Zeugnisse und Geburtsurkunde hatte ich mit Leukoplast auf den Körper geklebt. So sehr es meine Mutter schmerzte, von mir in Ostberlin zurückgelassen worden zu sein, frohlockte sie doch bei dem Gedanken an mein Leben in Freiheit. Tausenden Menschen ist von den Kommilitonen der Berliner Universitäten der Weg in die westliche Hemisphäre ermöglicht worden - eine bis heute nachklingende heroische Leistung der damaligen Studentenschaft. Verhaftungen gegen Ende 1961 zeigten dann an, der DDR-Käse hatte so gesehen, nun keine Löcher mehr. Mein Studium dauerte 11 Semester, denen sich 80 als Gymnasiallehrer anschlossen.

      Getretene Kieselsteine lenken meinen Blick in Richtung des Geräuschs. Eine Dame in Begleitung zweier Herren, alle um die Mitte Vierzig, nähert sich unserem Tisch. ER erhebt sich, seine Zigarrenspitze ruht im für Zigarren dimensionierten Aschenbecher. Ich beobachte eine Begrüßungsszene, wie sie unter Freunden und guten Bekannten heutzutage gang und gäbe ist. ER umarmt aus der Dreiergruppe zuerst die Dame. Links und rechts bekommt sie einen angedeuteten Kuss auf die Wangen und dann strahlen sie sich an. Das herzliche Willkommen läuft bei den beiden Männern genauso ab - nur ohne Küsschen.

      ER, ROLAND, stellt uns einander vor.

      Die lockere Kennenlern-Konversation nimmt gerade Fahrt auf, als eine jüngere Dame hinzutritt und sie unterbricht. Weil sie dazugehört, geht das herzliche Szenario noch einmal reihum. Die Gesprächskultur, bei der das Ausreden-lassen so selbstverständlich ist, wie die achtungsvolle Einbeziehung von nicht Anwesenden, zeigt den Respekt im Umgang miteinander. Mein Eindruck - hier sind kultivierte Freunde beisammen.

      Die liebenswerte Runde bleibt zusammen, die Sonne verlässt den Horizont, der Wirt gibt uns Decken, damit wir weiter im Freien verweilen können.

      Ich freue mich über die Bereicherung meines Bekanntenkreises.

       Voraus, der Leichenschmaus

      Sieben Jahre sind seither vergangen. Roland ist tot!

      Er war mir zum Freund geworden. Den Gipfel der Freundschaft bildete unsere gemeinsame Adresse. Wir wohnten in einem Reinickendorfer Wohnpark für Senioren, wo im selben Haus jeder sein Appartement hatte. Dort verbrachten wir viel Zeit miteinander. Manches unserer Gespräche endete mit dem einander ausgedrückten Respekt, solch erbaulicher Erörterungen überhaupt fähig zu sein. Es war eine beiderseitige Freude, mit Roland im Kreise anderer Gesprächspartner wechselseitig geistreiche verbale Korsettstangen zu reichen. Aus Spaß an der Freude spielte für uns nicht einmal das Thema die ausschlaggebende Rolle. Rolands und meine Freunde, das war eine illustre Palette von Leuten, die sich von spontan bis regelmäßig trafen. Ein festes Stammlokal hatten wir nicht. An trockenen und warmen Tagen saßen wir manchmal bis spät in die Nacht vor den Cafés, politisierten, taten einander kund, was wir beispielsweise mit Frauen erlebt oder durchlitten hatten und redeten über Gott und die Welt, über die sich Reiseberichte wie ein Netz spannten. Beim Leutebeobachten hielt die Betrachtung der nachgewachsenen Damenwelt unsere Augen und Sinne aktiv. Das ging soweit, dass schon mal galant nach dem Woher und Wohin gefragt wurde. Die Lust zu rauchen schränkte die Auswahl der Treffpunkte in den kühlen Jahreszeiten zwar ein, aber Berlin ist die Metropole exquisit geführter Raucherlounges. Möglichkeiten, das überbordende Kulturangebot Berlins auszukosten, handhabten wir wie die meisten Einheimischen. Gäste von außerhalb wussten über Events in der Stadt oft besser Bescheid und legten so für uns die Spur.

      Roland und mir ging es gesundheitlich ausgesprochen gut. Wir glaubten, auf hundert Lebensjahre programmiert zu sein.

      Bei Roland hat das leider nicht geklappt. Jetzt ist er unter einer großen Säule aus rotbraunem Granit beerdigt. Ungefähr hundert Leute haben ihm soeben bei blauem Himmel eines Tages im Mai, das letzte Geleit gegeben. Schon auf dem Friedhof hörte ich so etwas wie: “Dolle Grabsteinvariante das…..“

      Gut die Hälfte der Trauergemeinde sitzt momentan Aperitif trinkend um mich herum - beim Leichenschmaus. Seine Moderation ist mir eine Selbstverständlichkeit.

      Die älteste Freundschaft, fünfundsechzig Jahre, die zwischen Roland und Peter bestand, bekundet dieser durch seine Anwesenheit. Er ist immer noch aktiver Segelflieger. Jedes Jahr muss er vor der Flugmedizinischen Kommission erscheinen,