1808, Brauers Jean-Paul-Ausgabe in einem herrlichen alten Einband, die Voßsche Horaz-Übersetzung und vielerlei anderes, auch sehr viel Philosophisches.[252]
Die Villa wird in der Benjamin-Biographik oft als »Villa Pollak« bezeichnet, so als hätte Max PollakPollak, Max sie gekauft, was aber nicht zutrifft. Dora und MaxPollak, Max wohnten lediglich zur Miete in diesem Haus, das, um 1860 erbaut, nicht ganz so luxuriös und idyllisch war, wie es oft beschrieben wird: Vom Seeufer durch eine Straße getrennt in einem großen, aber keineswegs parkähnlichen Garten liegend, zweistöckig, ohne Aussicht auf Berge, weitab vom Dorf und vom Wald, im Gesamteindruck eher langweilig und deprimierend. Die Umgebung war allerdings wunderschön: Badestrände am nahen Dampfersteg, rings um den See weitere kleine Seen, Tümpel und Weiher, die von dichtem Schilf umstanden waren, zahllose Seerosen, steile Wiesen, üppige Bauerngärten, in denen Malven und Akazien wuchsen, der gemütliche »Gasthof zur Post« und das fashionable Hotel Seeshaupt mit seiner bekannten guten Küche, für das überregional in der Presse geworben wurde.
Trotzdem waren die Mieten relativ niedrig, weshalb viele Künstler nach Seeshaupt zogen, der Maler Heinrich CampendonkCampendonk, Heinrich mit seiner Frau AddaCampendonk, Adda zum Beispiel, die ein großes Bauernhaus mit Garten bewohnten, wo er seine berühmten Hinterglasbilder schuf. Andere kamen immer wieder, um sich zu erholen: Heinrich MannMann, Heinrich, Alfred KerrKerr, Alfred oder der berühmte Librettist und Regisseur Rudolf BernauerBernauer, Rudolf, der hier zusammen mit seinem Kompagnon Rudolf SchanzerSchanzer, Rudolf über neue Stoffe nachdachte.[253]
Seeshaupt blieb dennoch ein verschlafener kleiner Ort, eine Art Marktflecken, der sich um eine Kirche scharte, ein Dorf der Fischer und Bauern, sodass man sich fragt: Wie kamen die Pollaks überhaupt hierher? Und vor allem: warum kamen sie? War MaxPollak, Max vielleicht als Patient in Bad Nauheim gewesen und hatte dort von der Villa gehört, die zu vermieten war? Hatten Berliner Bekannte von Seeshaupt erzählt? Rudolf SchanzerSchanzer, Rudolf vielleicht, der bekannte, aus Wien stammende Textdichter und Journalist,[254] der mit Dora entfernt verwandt gewesen sein könnte, da ihre Tante RosaSchanzer, Rosa (geb. Weiß) mit einem Sali SchanzerSchanzer, Sali verheiratet war?[255] Oder war es die Nähe zu Österreich, die sie lockte, Heimweh nach den Landschaften ihrer Kindheit?
Doch auch in Seeshaupt war der Krieg deutlich spürbar, wenn auch auf völlig andere Weise als in Berlin. Die einzige Zeitung der Region, der Land- und Seebote, brachte »Kriegskochanweisungen« wie Brotsuppe mit Apfelsinensaft, Krautmelange und geröstete Gerstensuppe;[256] er forderte auf, »Deutsch« zu sprechen, etwa »Vater« und »Mutter« anstatt »Mama« und »Papa« zu sagen, was eine unwürdige Anbiederung an die Sprachen der Feinde sei.[257] Frauen und Mädchen wurden davor gewarnt, sich mit Kriegsgefangenen einzulassen, ja auch nur in Briefverkehr mit ihnen zu treten, weil sie sonst mit hohen Gefängnisstrafen zu rechnen hätten.[258] Obwohl man mitten auf dem Land zwischen Äckern, Obstgärten und Weiden lebte, wurden die Nahrungsmittel streng rationiert: keine Eierspeisen in öffentlichen Gaststätten, nur ein Pfund Kartoffeln pro Person und Woche, keine Brotkarten für Zugereiste.
Trotzdem scheint es den Pollaks nicht schlecht gegangen zu sein. Von Hunger und karger Kost ist jedenfalls nirgends die Rede. Dora hatte einen ausgeprägten Sinn fürs Praktische, der ihr noch oft im Leben behilflich sein würde. Hier fand sie Gelegenheit, ihn anzuwenden, in Verhandlungen auf dem Schwarzmarkt oder mit Bauern und Kaufleuten. Dabei war es sicher von Vorteil, dass sie erkennbar keine »Preußin«, sondern Österreicherin war und außerdem noch angenehm aussah. Gut möglich, dass sie selbst zum Kochlöffel griff und die »Kriegskochanweisungen« praktisch umsetzte, denn Kochen machte ihr Spaß und sollte eines Tages zur Leidenschaft, ja zum Beruf werden. Jedenfalls würde sie Seeshaupt immer in guter, ja nahezu verklärter Erinnerung behalten.
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