Christopher Ecker

Fahlmann


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Rest des Körpers; es waren verschmitzte Augen, seltsam vergrößert durch lupendicke Brillengläser.

      «Aufgeregt?», fragte er mitfühlend.

      «Ich sage nicht ja, ich sage nicht nein.»

      «Es wäre schlimm, wenn es nicht so wäre.»

      Ich sah ihn verständnislos an.

      «Es wäre schlimm, wenn du nicht aufgeregt wärst.»

      «Na ja, ich weiß nicht. Irgendwie ist es absurd, wenn man – ach, wünsch mir doch einfach Glück!»

      Er klopfte mir auf die Schulter und suchte sich einen Sitzplatz. Ich verdrückte mich, um im Flur eine Zigarette zu rauchen. Die ersten Besucher kamen. Ein Germanistikstudent, den ich vom Sehen kannte, grüßte mich, spähte in den Saal, entdeckte Großvater und wollte witzig sein.

      «Der alte Sack», sagte er, «hat sich bestimmt im Raum geirrt»

      «Das mag wohl sein», murmelte ich und ersann blitzschnell eine elegante und äußerst schmerzhafte Methode, Großvater zu rächen, eine Methode zudem, die jede Gewalttat an Heimtücke übertraf. «Ich hab dir was zu gestehen», sagte ich. Er näherte sich erwartungsvoll. Ich setzte eine bekümmerte Miene auf. «Es handelt sich um etwas höchst Vertrauliches. Es ist mir sehr unangenehm, darüber zu reden. Kurz und gut», ich senkte die Stimme: «Du riechst unbeschreiblich aus dem Mund. Weißt du, wie sie dich nennen?»

      «Wie?», schnappte er atemlos.

      «Sie nennen dich Mister Mundgeruch.»

      Mit belegter Stimme: «Wer?»

      «Alle an der Uni nennen dich so. Weißt du noch, wie Professor Capart vor deinem Atem zurückgewichen ist, als du ihn mal nach einer Seminarsitzung was gefragt hast? Richtig zurückgezuckt ist der. Und ‹Puh!› hat er gesagt, ganz leise, aber wir habens alle gehört. Tja, seitdem nennen sie dich so. Wirklich alle. Sogar die Erstsemester nennen dich Mister Mundgeruch.»

      Er bedankte sich für meine Ehrlichkeit, verstrickte sich in unzusammenhängenden Bemerkungen über unverträgliches Mensaessen und bitteren Automatenkaffee und betrat den Raum, in dem ich gleich lesen musste, um dort sichtlich angeschlagen zwischen den Stuhlreihen umherzuirren. Ich war beeindruckt. Er hatte sogar die Sache mit Capart geschluckt – und das, obwohl er kein bisschen aus dem Mund roch! Zufrieden rauchte ich eine zweite Zigarette, sitzt die Frau also splitterfasernackt in der Badewanne, klopf, klopf, klopf, kommt der Klempner rein, hallo Georg! «Wie schön, dass Sie gekommen sind.» Ich begrüßte eine von Mutters unsympathischen Herrenbekanntschaften mit Handschlag und flitzte danach zur Toilette, um weiterem Händeschütteln zu entgehen. Als Jens in den Kindergarten ging, erzählte er uns eines Tages, sie hätten den ganzen Vormittag damit zugebracht, «richtiges Handgeben» zu lernen, und er solle es jeden Tag mit seinen Eltern üben. Ich vermutete, dass er was ins falsche Ohr bekommen hatte, aber als ich einige Tage später eine gezielte Nachforschung im Katholischen Kindergarten anstellte, bestätigte seine Kindergärtnerin, eine Nonne, nicht nur den widersinnigen Bericht meines Sohnes, sondern belehrte mich darüber hinaus, dass viele Menschen die Wichtigkeit eines selbstbewussten Händedrucks unterschätzten. Dies tat sie nicht ohne versteckten Vorwurf, denn mein Händedruck ließ in ihren Augen offensichtlich sehr zu wünschen übrig. «Dabei ist gerade der erste Eindruck bei einem Vorstellungsgespräch der entscheidende», dozierte sie selig. «Ein fester, selbstsicherer Händedruck kann Berge versetzen.» Nonnen tun mir immer leid. Sie sehen aus wie Raben und können nicht fliegen. «Ich glaube nicht», widersprach ich höflich, «dass man schon im Kindergartenalter …» – «Doch!», sagte sie. «Man kann gar nicht früh genug damit anfangen, Herr Fahlmann!» Vielleicht sollte ich Jens zu meiner nächsten Lesung mitnehmen, damit er das Publikum mit professionellem Händedruck begrüßte, hallende Stimmen im Korridor, nahendes Gelächter, ich durchquerte einen kleinen Vorraum (Waschbecken, Spiegel, Händetrockner), kam in einen weißgekachelten Würfel, linker Hand die Pissbecken, gegenüber zwei Toilettenkabinen, es roch vertrauenserweckend nach Sagrotan, ich belegte die rechte Kabine, ließ die Hosen runter, blätterte in meinem Buch, konnte mich nicht entscheiden, mit welchem Teil ich die Lesung beginnen wollte. Jemand betrat die Herrentoilette, Schritte endeten vor einem Urinal, ein Reißverschluss wurde runtergezogen, und nach einer Weile konzentrierten Schnaufens setzte ein zaghaftes Plätschern ein, das zunehmend an Intensität gewann.

       Eine zweite Person betrat den Raum, sagte etwas zu der ersten, das ich nicht verstand, Schritte, erneut wurde ein Reißverschluss geöffnet, und als zu dem ersterbenden Plätschern ein kraftvoll sprudelndes hinzukam, wurde ich Zeuge eines beunruhigenden Gesprächs. «Ich konnte draußen nicht so deutlich werden, aber ich halte das, was er schreibt, für Scheiße, für absoluten Blödsinn.» – «Ich auch.» – «Meine Freundin kennt den Kerl. Nur deshalb bin ich hier.» – «Ja, die Frauen und die Literatur!» Beide lachten, ein Reißverschluss wurde energisch hochgezogen, dann gestand der zweite: «Ich bin auch nicht freiwillig hier. Mir hat», ein Name, den ich nicht verstand, «ne Freikarte geschenkt. Da konnte ich schlecht nein sagen. Außerdem kenn ich ihn», damit war wohl ich gemeint, «flüchtig.» Entschuldigend: «Von der Uni.» Im Geiste sprengte ich die Toilettentür mit einem Tritt auf, brüllte «Überraschung!» und hüllte sie in die lodernde Aureole eines Flammenwerfers. Ein Urinal gurgelte, Schritte, Tür auf, beide verließen die Herrentoilette, ohne sich die Hände gewaschen zu haben, Tür zu, auf dem Schoß mein Buch, an der kühlen Klotür meine Stirn. Auch ein Erlebnis wie dieses, stellte ich fest, kann das Gefühl der Verunsicherung hervorrufen, dem ich mich vorhin in schwerfälliger Metaphorik zu nähern versuchte, indem ich von falschen Etagen, umherirrenden Métros und ausgesetzten Betrunkenen sprach. Was waren das für Menschen? Einer spülte nicht ab. Der andere zog seinen Reißverschluss nicht hoch. Eine lähmende Unsicherheit lag unter der Oberfläche der Welt wie eine straff gespannte Membran und ließ die Wirklichkeit vibrieren. Ruhig werden. Ich muss ruhig werden. «Guten Tag», sagte ich, «es freut mich sehr, dass Sie so zahlreich erschienen sind.» Der Klang meiner Stimme gefiel mir nicht. Irgendwie heiser. Hätte heute nicht so viel rauchen dürfen! «Guten Tag», übte ich tapfer weiter, «eigentlich wollte ich ja auf der Toilette lesen, vor einem anonymen, aber nichtsdestotrotz kritischen Publikum …» Ich wischte mir den Arsch ab. Die beiden Kerle sitzen jetzt drüben und warten auf mich. Heiser. Wie ärgerlich! Ich rauche zu viel.

       Hoffentlich versagt die Stimme nicht! Ich räusperte mich und steckte mir eines dieser extrastarken Eukalyptusbonbons in den Mund, die Susanne in Zehnerpackungen aus dem Edeka-Lager schmuggelte. Sie war nicht mitgekommen. Angeblich, weil sie meine Sachen «in- und auswendig» kenne. Von wegen! Ich hoffte nur, sie traf heute Abend eine ihrer Freundinnen in einem neonerleuchteten Szene-Café und nicht, wie ich insgeheim befürchtete, den weißhaarigen Wolfgang. Vorhin war sie nur mit einem Höschen bekleidet aus dem Bad gekommen, einem Seidenslip, den ich noch nicht kannte, mit schmetterlingsförmigem, erregend verdunkeltem Webspitzeinsatz, bestimmt trifft sie eine Freundin, Hose hochziehen, bestimmt, abspülen, noch eine Minute, ich zählte bis 60, bestimmt trifft sie eine Freundin, ich verließ die Toilettenkabine, 61, 62, verließ die Herrentoilette, 63, bestimmt, Gemurmel im Saal, 64, 65, sie trifft eine Freundin, alles kam mir unwirklich vor, verkehrt, Wolfgang, 66, sie trifft Wolfgang, 67, 68, den Raum pflasterten Hinterköpfe, natürlich trifft sie, 69, Wolfgang, 69, 70, alle betrachteten die Leselampe, Webspitzeinsatz, betrachteten die Sprudelflasche, 71, 72, es war, als sollte die Scham ihn überleben, mit diesem Satz endet Kafkas Proceß – und so begann meine Lesung, sie trifft sich mit Wolfgang und ich muss mich hier zum Larry machen! Vor mir lag das lächerliche Buch, dieses lächerliche Taschenbuch mit dem noch lächerlicheren Titel. Ich erschrak, wenn ich ihn auf Plakaten las oder in Rezensionen, zuckte zusammen, wenn ich im Radio hörte: Heute Abend liest der junge Autor Georg Fahlmann aus seinem vielbeachteten Gedichtband (und jetzt kommts mit Fanfaren und Paukenschlag) schWEINe-essIG. Das Publikum ignorierend, schlug ich das Buch auf, überblätterte die unvorteilhafte Fotografie, die mich auf einem Campingstuhl in Lambaréné zeigte: Angetan in kurzen Turnhosen und einem zu engen Polohemd starre ich die Daumenkuppe des Lesers an, die sich jenseits des linken Bildrands befindet.

       «Wir brauchen das Foto morgen früh!», hatte mich Marsitzky mit überschlagender Stimme angerufen. «Das Buch geht nächste Woche in Druck. Um Himmels Willen, Sie müssen doch irgendein Bild von sich im Haus haben!» Ich wühlte