Andreas H. Apelt

Pappelallee


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heißen sie erst seit heute. Genauer – nach dem Besuch im Standesamt, Herr und Frau Frenzel, geborene Nusselbeck.

      Kann man gut verstehen, dass die Nusselbeck nicht mit der Hochzeit warten wollte, sagt Ottmar Graustock, der auf den Treppenflur getreten ist. Bei dem Namen. Dabei lehnt sich der junge Mann mit seinem altmodischen schwarzen Anzug, den er selbst beim Kohlenholen trägt, an den Türrahmen.

      Aber das ist noch lange kein Grund, uns die Nacht zu rauben, schimpft Getschmar, der gerade die Treppe hinaufkommt und wohl ahnt, was passieren kann. Sein dünnes graues Haar hat er über der faltigen Stirn ordentlich zur Seite gescheitelt. Wie immer, wenn er von der Arbeit kommt, trägt er eine braune Aktenledertasche. Getschmar ist Leiter. Volksbildungsabteilung des Bezirksamtes Berlin-Prenzlauer Berg. Und das ist schon was, wenngleich nicht alles! In der Gethsemanestraße 5 führt er noch das Hausbuch und ist Vorsitzender der Hausgemeinschaftsleitung. Und damit ist er wichtig. Sehr wichtig sogar, auch wenn Genosse Getschmar, darauf angesprochen immer abwehrt. Nein, nein, das ist nur meine Pflicht. Ehrenamtlich, versteht sich.

      Natürlich, Herr Getschmar, Sie tun nur Ihre Pflicht!

      Seine Pflicht ist auch der Hinweis auf die mögliche Beeinträchtigung der nächtlichen Ruhe. Und das mit hellseherischer Fähigkeit, wie auch sonst: Ich seh schon kommen, dass man heute Nacht kein Auge zumachen kann. Wäre ja nicht das erste Mal.

      Sondern?, fragt Graustock interessiert. Der junge Mann ist erst vor einigen Wochen aus diesem Drehna aus der Niederlausitz in das alte Berliner Mietshaus gezogen.

      Getschmar stellt die Aktentasche auf den Boden. Dann zieht er die Hosen an den Gürtelschnallen hoch und macht ein vielsagendes Gesicht. Die dritte Hochzeit Frenzels, flüstert er. Und das in nicht mal zehn Jahren.

      Graustock scheint es nicht zu erschrecken, nur die hellen großen Augen kneift er hinter der Nickelbrille zusammen. Mehr nicht.

      Naja, sagt Getschmar, als ahnt er schon, dass dem jungen Mann dies alles nichts bedeutet. Was weiß der schon? Aber das sagt er nicht. Lieber schaut er in das schmale blasse Gesicht von Graustock und denkt sich seinen Teil.

      Nun, die Nusselbeck hat er ja schon drei Jahre, führt Getschmar jetzt doch aus, ist ja gleich mit eingezogen. Aber der Junge, der ist aus seiner ersten Ehe. Ziemlich deformiert, wenn Sie verstehen. Kein Wunder, den muss man sich bloß anschauen.

      Aus der ersten Ehe?, fragt Graustock interessiert, woher wissen Sie das alles.

      Ja! Getschmars rechter Zeigefinger geht in die Höhe. Dafür hat man eben ordentlich geführte Hausbücher! Von wegen, mir kann man da nichts vormachen. Gar nichts, wenn Sie verstehn.

      Graustock bleibt nichts anderes übrig.

      Aber was dann aus diesen Menschen wird, tja … Getschmar schüttelt den Kopf. Sieht man ja, rote Haare und die, na wie soll ich sagen, wie bei einem Indianer …

      Irokesenschnitt, verbessert der junge Graustock.

      Genau so!, ruft Getschmar. Irokese und das mitten im Prenzlauer Berg. Hauptstadt der DDR. Hat wohl zu viele Indianerfilme gesehen, mit Gojko Mitić oder wie der heißt. Dabei geht sein Kopf jetzt auf und ab. Dann lehnt er sich zu Graustock hinüber und flüstert: Aber vielleicht bekommt der auch noch ganz andere Sachen zu sehen. Bei den Eltern würde mich das nicht wundern! Getschmar schaut sich ängstlich um. Doch im Treppenhaus ist niemand. Also fährt er fort: Nein, der Bursche war schon sechs Jahre alt, als die in das Haus zogen. Frenzels erste Frau hab ich selbst nicht gekannt und im Hausbuch war die auch nicht eingetragen. Aber das ist ja alles modern heute, nicht wahr?

      Eine Antwort muss Graustock nicht geben, denn in diesem Moment springt im dritten Stock die Tür auf. Die Hochzeitsgäste treten singend auf den Treppenflur. Frenzel selbst, ein gutmütiger rundlicher Mittdreißiger, führt die Polonaise an. Seine neue Frau, eine etwas kräftige Dame mit frisch gefärbten blonden Locken, eine Freundin und der halbwüchsige Sohn mit dem Irokesenschnitt folgen. Im Entenmarsch, die Hände dem jeweiligen Vordermann auf die Schultern gelegt, kommen die Hochzeitsgäste polternd und lärmend die Holztreppe hinab: Wir ziehen los, mit ganz großen Schritten und

      Getschmar schüttelt den Kopf und fasst die braune Aktentasche fester.

      Als Frenzel, noch immer an der Spitze des Zuges, eine halbe Treppe tiefer Getschmar erblickt, stockt er. Aber ein kurzer Stoß von hinten treibt ihn wieder an. So also geht es lärmend weiter.

      Gratuliere zur Eheschließung, ruft Getschmar seinerseits mit hochrotem Kopf und drückt sich an die Hauswand.

      Frenzels Dank geht im Refrain unter.

      Machen Sie doch mit, Herr Getschmar!, ruft die Nusselbeck alias Frenzel mit schwerer Zunge und weist mit einer Handbewegung auf das Ende des kurzen Zuges. Sind doch sonst so fürs Kollektiv … Und das andere, darüber wollen wir lieber nicht reden …

      Frenzel zischt die Braut an und macht ein böses Gesicht.

      Nein, lassen Sie mal, wehrt Getschmar ab. Vielleicht macht der Graustock mit, der ist jung und gut gebaut.

      Doch Ottmar Graustock ist längst hinter seiner Wohnungstür verschwunden.

      Einreihen, rufen jetzt die Gäste im Chor, sodass Getschmar verlegen lächelt.

      Nun kommen Sie schon, lallt eine andere Frau und schiebt Getschmar in die Schlange. Brauchen doch keine Extrawurst!

      Getschmar tritt der Schweiß auf die Stirn. Doch da ist er schon eingereiht, auch wenn er nur eine Hand auf die Schulter von Frau Frenzel, geborene Nusselbeck, legen kann, weil er mit der anderen die braune Aktentasche hält.

      So ziehen die Gäste weiter, … mit ganz großen Schritten, und Erwin fasst … hinunter bis in den Hausflur, wo sie aufpassen müssen, weil doch der alte Löffler aus dem Erdgeschoss seine leeren Schnapsflaschen immer in den Gang stellt, dann auf den Hinterhof, wo sie zwei Bögen um die rostigen Wäschestangen und die verbeulten Mülleimer drehen. Ja da kommt Freude auf!, singen sie und jauchzen vor Vergnügen.

      Aber aufpassen, ruft jetzt Getschmar, das Beet! Dass mir da keiner reintritt.

      Was für Beet?, fragt die Freundin der Nusselbeck.

      Getschmars Beet dort an der Mauer, klärt die neue Frau Frenzel auf und stolpert dabei mit der schweren Zunge nicht nur über die Worte. Steht jeden Abend drin und hackt und gießt und jätet.

      Das Handtuch da!, ruft ein anderer und zeigt auf das penibel gepflegte Stück Erde mit Astern, Primeln, Margariten und einer mannshohen Sonnenblume.

      Selbst Kerne!

      Für die Spatzen im Winter, nicht wahr Herr Getschmar?, wendet sich die Braut ihrem Hintermann zu.

      Getschmar nickt nur.

      Und der Rosenstock?

      Ja, was Besonderes, Frau Nusselbeck, oder muss ich doch besser Frenzel sagen?

      Ach, wie Sie wollen, Getschmar. Aber es wird richtige Rosen geben! Und das in unserem Hinterhof!

      Hört auf zu quatschen, singt lieber mit!, schreit Frenzel und gibt den Ton wieder an.

      Wir ziehen los mit ganz großen Schritten … ertönt der Refrain im Chor und die Menschenschlange macht einen ehrfürchtigen Bogen um Getschmars kleines Hinterhofbeet.

      Eine junge blasse Frau, die sich einen dicken Bauch hält, schließt im Erdgeschoss des Seitenflügels die Fenster.

      Typisch für die Golzen, murrt Getschmar. Sich immer ausschließen aus dem Wohngemeinschaftskollektiv. Und der Freund ist auch nicht besser. Aber was will man von solchen Leuten schon verlangen. Hängen ja nicht mal die Fahne aus dem Fenster an den Feiertagen.

      Bisschen Musike würde dem Kind auch nicht schaden, ruft Frenzel und weist auf den dicken Bauch.

      Früh übt sich!, ergänzt kreischend seine Braut.

      Mit einer letzten Runde um die Mülltonnen verabschiedet sich der Zug vom Hof und poltert die Treppe im Vorderhaus hinauf. Auch an Hülsmanns Wohnung ziehen sie vorbei. Schon wieder so ein Spielverderber,