schon daran gedacht, in Lüttdorf ihr Leben zu beschließen. Oben in der alten Remise an der Birkenallee und in Thomas’ Armen. Aber diese Wünsche waren längst zerstoben. Sie waren wie eines ihrer Bilder blaß und kraftlos geworden. Bilder, auf denen die Farben nicht mehr stimmten. Diese Farben waren verblichen, weil ihnen die Leuchtkraft des Herzens fehlte.
Zum erstenmal kam ihr der Gedanke, daß ihrem eigenen Herzen vielleicht die Leuchtkraft der Liebe fehlte. Da, wo Liebe war, fühlten sich doch auch Toleranz und Verständnis zu Hause. Warum konnte sie Thomas nicht verzeihen? Er hatte aus Vorsicht und aus Klugheit geschwiegen. Dieses Schweigen hatte sie zu einer Lüge aufgebauscht. Sie schluchzte noch einmal.
»Ich werde fahren, Natalie. Du, Gerhard und die Kinder werdet glücklich sein. Auch ohne mich und Hubertus.«
»Aber Hubertus könnte in Lüttdorf zur Schule gehen. Bis ihr eine Wohnung beziehen könntet, wäret ihr unsere Gäste. Du weißt selbst, wie groß und geräumig das Haus ist.«
Unten wurden die Stimmen der Kinder laut. Natalie wollte ihnen entgegeneilen. Im Vorbeigehen naschte sie noch einen der köstlichen Pralinen aus der Baden-Badener Lieblingskonditorei ihrer Mutter. Sie war wieder zu Hause und fühlte sich wohl. Die Schokolade schmeckte ihr, und wenn die Kinder im Bett waren, würde ihr auch der von Gerhard kaltgestellte Wein bekommen.
*
»Wie viele Patienten noch?« fragte Dr. Thomas Hassberger seine Sprechstundenhilfe.
»Zwei, Herr Doktor.«
»Zwei? Wo kommen die denn her? Es ist bereits Mittagszeit.«
Er war die ganzen vergangenen Tage ungehalten und schlecht gelaunt gewesen. Aber er wußte auch, daß ein Arzt nicht von Stimmungen abhängen durfte. Darum riß er sich zusammen.
»Also. Der Nächste, bitte, Fräulein Schmal.«
»Es sind zwei, Herr Doktor.«
»Na ja«, knurrte er ungeduldig. »Dann der, der zuerst da war. Das wissen Sie doch schon.«
Fräulein Schmal rührte sich nicht von der Stelle. Aus ihrem Blick war zu erkennen, wie peinlich ihr diese Angelegenheit war.
»Sie wollen nur zusammen ins Sprechzimmer kommen.«
»Sind es – Männer?«
»Ja«, quälte sie sich ab. »Ja, es sind zwei Männer. Einer mit grauen Schläfen, der andere, nun ja, der ist jung und
hübsch.«
»So? Jung und hübsch? Sieh mal an!« wunderte Thomas sich. Daß Fräulein Schmal seine Patienten nach ihrem Äußeren taxierte, war ihm neu.
Sekunden später standen ihm Gerhard Stellmann und Hubertus Winkler gegenüber, und er brach in schallendes Gelächter aus.
»Die ersten Lüttdorfer Männer, die paarweise in meine Praxis kommen«, amüsierte er sich.
Hubertus stöhnte laut auf und verdrehte die Augen. Für solche Späße hatte er heute keinen Draht. Er war in großer Not.
»Wie geht es dir, Hubs?« fragte Thomas seinen Patienten. »Und was kann ich für Sie tun, Herr Stellmann?«
Er ahnte schon, daß es wieder um Nora Anderson ging. Diese Schwedin war wirklich ein Naturwunder. Sie brachte es fertig, daß Onkel und Neffe Hand in Hand vor dem Arzt erschienen und auch noch rot wurden. Wenigstens sahen Hubertus und Gerhard sich an und zögerten mit der Antwort.
»Es geht um Mami«, sagte Hubertus schließlich. »Sie will nach München zurück, und da dachten wir, wir lassen sie krank werden.«
»Diese schreckliche Idee kam von dir«, beschuldigte Gerhard ihn. »Ich begleite dich nur, damit Dr. Hassberger uns nicht für Spinner hält, und damit du die Verantwortung nicht allein übernehmen mußt.«
»Du willst auch, daß Mami bleibt«, zischte Hubs seinen Onkel an. »Ich habe selbst gehört, wie du sie darum gebeten hast.«
Gerhard Stellmann seufzte, dann sah er Thomas Hassberger mitleidheischend an. »Ja, es stimmt. Ich möchte gern, daß meine Schwester in Lüttdorf bleibt. Es wäre so gut für meine Frau. Und natürlich auch für Hubertus und die Kinder. Angie könnte hier malen und…«
»Und mit Dr. Hassberger zu Abend essen«, vollendete Hubertus den Satz.
Thomas bot den Herren Stühle an, ließ sich selbst nieder und betrachtete die beiden über die Platte seines Arbeitstisches hinweg, als hätte er wirklich außerordentlich komplizierte Fälle vor sich.
»Was habe ich damit zu tun?« fragte er schließlich.
»Sie haben doch mit meiner Mutter hm, hm – geflirtet.«
»Ja, das stimmt. Aber wenn es ihr gefallen hätte, wäre sie ja wohl selbst in meine Sprechstunde gekommen.«
»Die!« riefen Gerhard und Hubertus gemeinsam aus. »Niemals!«
»Meine Mutter ist hart wie ein Diamant.«
»Meine Schwester war schon immer sehr dickköpfig und intolerant.«
»So?« Thomas mußte lächeln. »Intolerant? Ja, das ist sie, Herr Stellmann. Und wie kann ich das ändern?«
Hubs schlang seine Finger ineinander. Die ganze Angelegenheit wurde immer spannender. So spannend, daß er es kaum ertrug. Die Idee stammte schließlich von ihm. Aber immerhin hatte Onkel Gerhard sie so gut gefunden, daß er gleich mit zu Dr. Hassberger gekommen war.
»Am besten wäre es natürlich«, platzte Hubs damit heraus. »Sie würden sie noch einmal sehen und lange mit ihr reden.« Er ahmte dabei einen küßchengebenden Mann nach und erntete befremdete Blicke von Thomas und Gerhard. Das störte ihn keineswegs. »Das wird Mami aber nicht wollen. Dazu ist sie zu sauer. Und krank wird sie auch nicht so schnell. Darum wollte ich – wollten wir…«
»Wir wollten Sie um ein Medikament bitten, das meine Schwester reiseunfähig macht, Herr Doktor Hassberger.«
»Halten Sie mich für verrückt?« schimpfte dieser.
»Nee, aber Sie waren doch in Mami verliebt.« Hubs grinste siegessicher.
»Ein Grund mehr, ihr kein Gift zu geben«, knurrte Thomas. Wenn er ehrlich war, und das wollte er ja sein, mußte er zugeben, daß die Idee nicht ganz reizlos war. Wie er sich fühlen würde, wenn Angie krank und schwach im Bett lag und er sich hilfreich über sie beugen würde! Ihre ganze Arroganz und Einbildung wären bestimmt wie weggeblasen. Wenn er sie kurierte, würde sie ihm alles verzeihen und – nicht nach München reisen.
»Ich habe auch Zigaretten geschluckt, Herr Doktor. Damit war ich erst mal außer Gefecht gesetzt. So konnte ich Sie anrufen und Ihnen erzählen, daß sich meine Mutter ganz allein im Wald befand und dort malen wollte. Ich habe das wirklich prima eingefädelt. Daß Sie sich dann gestritten haben, war nicht meine Schuld.«
»Sie haben sich gestritten?« mischte Gerhard sich neugierig ein. »Mit meiner Schwester? Wie beruhigend. Ich dachte immer, sie streitet nur mit mir.«
»Wir haben Ihretwegen gestritten, Herr Stellmann«, erklärte Thomas mit einem Gesicht, das auf ungute Erinnerungen schließen ließ. »Ihretwegen und…«
»Den Namen dieser Frau kann ich nicht mehr hören«, unterbrach Hubs und erhob sich abrupt von seinem Stuhl.
Er schob die Hände in die Hosentaschen und machte einige Schritte zur Tür des Nebenzimmers. Die beiden Männer sahen ihn erstaunt an. Aber schon lächelte Hubs wieder freundlich.
»Wenn du dich unbedingt aussprechen mußt, Onkel Gerhard, bitte schön. Ich persönlich will nichts mehr von Nora hören. Das verstehst du doch wohl, nicht?«
Gerhard Stellmann blieb nichts anderes übrig, als ergeben zu nicken.
Hubs sah den Arzt an. »Darf ich mal in dieses Zimmer? Ich war noch nie in Ihrer Praxis, Herr Dr. Hassberger.«
Thomas überlegte einen Moment. »Du, Hubs«, erwiderte er dann ruhig, »ich bin