Ulrich Renz

Motte und Co Band 3: Blutspur


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Brüser, sagt, er wäre ganz aufgeweckt und unheimlich wissbegierig. Aber die meiste Zeit ist er eben auf Achse. Ein paarmal war schon die Polizei da und hat den Jungen zur Schule gebracht, aber auf Dauer ist das ja auch keine Lösung.“ Gerade in dem Moment kam ein braungebrannter Junge mit schwarzen Haaren und ebenso schwarzen Augen aus dem Wohnwagen gestürmt. Er war vielleicht acht Jahre alt. Als er die Kinder sah, blieb er stehen und schaute sie mit großen Augen an. Auf seiner Schulter hatte er irgendein Tier sitzen.

      „Eine Ratte“, sagte der Opa, „er hat sie mit in die Schule genommen, einmal ist sie ihm entwischt und aufs Lehrerpult gehüpft. Frau Brüser ist eine ältere und sehr empfindsame Dame und schnurstracks in Ohnmacht gefallen ... Ein echtes Problem ...“ Er hörte gar nicht mehr auf mit dem Seufzen.

      Als sie weitergezogen waren, schaute ihnen der Junge lange nach. Irgendwie tat er MM Leid. So ganz allein ohne Freunde mitten im Wald aufzuwachsen ...

      „Dieser verrostete Anhänger“, sagte Simon und schlenkerte mit seinem Bein, „der sah aus wie ein großes Käfig ...“

      „Und da sollen sie Tobi eingesperrt haben?“, sagte MM. „Hast du sie noch alle?“

      „Vielleicht wollen die ja Geld lösen?“

      „Lösegeld“, verbesserte sie ihn. „Und woher sollen die wissen, dass Tobis Vater reich ist, meinst du, die haben ne Klassenliste mit Vermögensaufstellung der Eltern?“

      „Grundsatz Nummer eins bei Profis: Man muss alle Spuren ernst nehmen“, machte JoJo der Diskussion ein Ende. „Wir schauen uns den Steinbruch morgen mal genauer an.“

      Vielleicht ist Tobi bis dahin ja längst wieder da, ging es MM durch den Kopf. Sie schaute unwillkürlich zum Fenster, als ob er dort auf dem Hof gleich auftauchen müsste. Aber draußen war nichts als die pechschwarze Nacht. Sie fröstelte plötzlich.

      Der arme Tobi! Was, wenn JoJo recht hatte und er wirklich in die Hand von Verbrechern gefallen war? Ein anderer Gedanke schlich sich in ihren Kopf. Eigentlich hatten sie ja Ermittlungsverbot – „striktes Ermittlungsverbot“, so hatte sich ihre Mutter ausgedrückt. „Die Jagd nach Verbrechern ist Aufgabe der Polizei! Ich hoffe, wir haben uns da verstanden!“ So ganz unrecht hatte sie ja nicht. Die Sache mit Giant Blue hätte um ein Haar ein schlimmes Ende genommen. Dass Mottes kleine Schwester Ute die Nacht in diesem Bunker unter der Erde überlebt hatte, war nur einem klitzekleinen Zufall zu verdanken ... Motte hatte MM einmal erzählt, dass auch seine Eltern ihn und seine Schwester schwer ins Gebet genommen hatten. Mottes Vater hatte ihn einen „Rückfalltäter“ genannt – die Sache mit Giant Blue war ja schon ihr zweiter Fall gewesen. Er hatte es wahrscheinlich mehr im Scherz gemeint, aber seiner Mutter hatte Motte hoch und heilig versprechen müssen, dass er in Zukunft die Finger von irgendwelchen Ermittlungen lassen würde.

      Als ob er ihre Gedanken gelesen hätte, sagte Motte: „Meine Eltern bringen mich um, wenn sie davon Wind bekommen.“

      „Meine auch ... zumindest meine Mutter“, murmelte MM.

      „Meine auch ... alle beide“, kam es leise von oben.

      JoJo setzte sich ruckartig auf und schüttelte unwirsch den Kopf. „Wie sollen eure Eltern denn mitkriegen, was hier läuft?“ Er verschränkte seine Arme vor dem Bauch. „Dann ermittle ich eben allein ... wenn ihr mich hängen lassen wollt ... und Tobi ... bitte!“ Er legte sich wieder hin und hielt sich demonstrativ sein Buch vor die Nase.

      MM und Motte schauten sich ratlos an.

      „Außerdem ermitteln wir gar nicht, wir sammeln bloß Informationen ... Was soll daran verboten sein?“, kam es hinter JoJos Buch hervor.

      MM schaute wieder nach draußen in die Dunkelheit. Eigentlich hatte JoJo recht. Sie saßen hier im Warmen, während Tobi irgendwo da draußen ...

      „Natürlich lassen wir Tobi nicht hängen“, hörte sie Motte neben sich flüstern.

      „Auf keinen Fall“, kam es leise von Simon.

      „Wenn es gefährlich wird, können wir immer noch aufhören“, sagte MM.

      JoJos Gesicht hellte sich schlagartig auf. „Wusste ich‘s doch!“ Er schaute mit einem Augenzwinkern zu seinen Freunden hinüber „Ohne euch hätte ich aber auch nicht ermittelt.“

      3. KAPITEL

      JoJo reichte gerade jedem Mitglied seiner „Ermittlungsgruppe“ (wie er seine Freunde jetzt titulierte) die Hand, als es an der Tür klopfte. Dreimal hintereinander – Pause – zweimal hintereinander – Pause – dann einmal laut und einmal leise. Dann wieder dreimal hintereinander. Abel war offenbar mit dem Verdauen fertig.

      Jedes Jungs-Zimmer hatte inzwischen seinen Klopf-Code. Ungebetene Gäste hatten zwar sowieso keine Chance – es hatte sich inzwischen herumgesprochen, dass die Lehne der Jugendherbergsstühle perfekt unter den Türgriff passte. Aber nachdem Max und seine Chaoten aus der 7 c damit angefangen hatten, wollte ihnen kein Zimmer nachstehen, zumindest keines der Jungs-Zimmer. Ohne Codewort oder Parole kam man nirgends mehr rein. Und natürlich war kein Code so kompliziert wie der, den JoJo für das Poetenzimmer (wie es bei den anderen inzwischen hieß) entwickelt hatte.

      Das „Geniale“ (Zitat JoJo) daran war, dass der Code sich ständig änderte. Mit jeder geraden Stunde kam ein lautes Klopfen dazu, mit jeder ungeraden ein leises. Das geniale Ergebnis war natürlich, dass die Jungs selber den Code ständig durcheinanderbrachten, allen voran JoJo, der mit dem Rechnen ohnehin auf Kriegsfuß stand. MM wusste, dass er immer ein kleines Zettelchen in der Tasche hatte, auf dem der Code notiert war. Sie war die einzige, die sich das System problemlos merken konnte. Und Abel.

      Obwohl sein Klopfen klar und deutlich zu hören war, schienen die Jungs nichts gehört zu haben und machten es sich wieder auf ihren Betten bequem. MM warf Motte einen auffordernden Blick zu, ohne Wirkung. Die Jungs taten immer so, als ob es die größte Strafe wäre, dass sie das Zimmer mit Abel teilen mussten. Er war bei der Zimmerverteilung am ersten Abend übrig geblieben und Zilinski hatte ihn kurzerhand dem Poetenzimmer aufgedrückt. (Seinen ewigen Spruch – „Tja, Kinderchen, das Leben ist kein Ponyhof“ – hätte er sich nach MMs Meinung allerdings sparen können.)

      Klar war Abel ein bisschen merkwürdig, vor allem sein Dauerlächeln nervte einfach. Aber sie hatte auch Mitleid mit ihm, sie wusste, wie es sich anfühlte, Außenseiter zu sein. Sie hatte die Zeit noch in lebhafter Erinnerung, als sie neu in die Klasse gekommen war und keiner etwas mit ihr zu tun haben wollte, weil alle sie für eine Streberin hielten. Nur weil sie eine Klasse übersprungen hatte. Gut, letztlich hatte sie Glück gehabt, mehr Glück als Abel. Er war einfach der geborene Außenseiter – merkwürdigerweise schien er darunter allerdings nicht im Geringsten zu leiden.

      Mit einem genervten Grollen startete MM zur Tür und ließ Abel herein.

      Er hatte seinen ewigen Froschschal um den Hals, dessen Hellgrün ihn noch blasser aussehen ließ als er ohnehin schon war. Abel gehörte wirklich in die Kuriositäten-Sammlung. Schon mit seiner Bohnenstangenfigur und den viel zu langen Armen und Beinen. Vor allem aber mit seinem Froschtick – überall auf seinen Sachen waren Frösche drauf, auf seinem Schulranzen, seiner Waschtasche, seinem Pulli, überall.

      Und gemeinerweise sah er auch fast ein bisschen aus wie ein Frosch, mit seinem breiten, geschwungenen Mund und den weit auseinanderliegenden Augen, die wegen der dicken Brille etwas hervorstanden.

      Abel lächelte zwar so gut wie immer, aber sagen tat er fast nie etwas. Wehe aber, man brachte ihn auf eines seiner Lieblingsthemen, dann redete er wie ein Wasserfall und konnte gar nicht mehr aufhören. Am liebsten sprach er über irgendwelche Mikroben, chemische Formeln, Wasserstoffbindungen und gern auch vom Nobelpreis, den er einmal „mit Freuden entgegennehmen“ würde. Er arbeitete schon heute fleißig daran. Vor ein paar Wochen hatte er tatsächlich einen Nachwuchspreis bei „Jugend forscht“ gewonnen, und zwar für eine Untersuchung, in der es darum ging, wie viele Keime wohl auf einer Klobrille leben. Dafür hatte er bei sich zu Hause