G. Neri
Tru & Nelle
Eine Geschichte über die Freundschaft von Truman Capote und Nelle Harper Lee
Aus dem Englischen
von Sylvia Bieker und Henriette Zeltner
Für Edward
Inhalt
Als wir uns Trumans Flugzeug ausliehen
Archulus Persons übertreibt’s mal wieder
Ein Monsterfisch und das Huhn mit zwei Köpfen
Wie ich Truman zum allerersten Mal sah
Tru & Nelle
Kunst ist eine Lüge, die die Wahrheit erzählt.
— Picasso
1.
Ein doppelter Irrtum
Monroeville, Alabama – Sommer, irgendwann während der Weltwirtschaftskrise
Als Truman Nelle das erste Mal sah, hielt er sie für einen Jungen. Sie beobachtete ihn wie eine Katze. Und zwar thronte sie auf einer brüchigen Mauer, die ihre weitläufigen Grundstücke voller alter Bäume voneinander trennte. Barfuß, in einer Latzhose und mit einem burschikosen Haarschnitt sah Nelle ungefähr so alt aus wie er, aber er konnte es nicht genau sagen. Denn er bemühte sich, nicht hinzustarren, und tat so, als würde er in seinem Buch lesen.
«Hey, du», sagte sie schließlich.
Truman schaute von den Seiten auf. Er saß reglos in seinem kleinen weißen Matrosenanzug in einem Korbstuhl auf der seitlichen Veranda des Hauses seiner ältlichen Verwandtschaft.
«Meinst du … meinst du mich?», sagte er mit hoher, dünner Stimme.
«Komm her», befahl sie.
Truman zupfte verlegen an seiner Stirnlocke und warf einen Blick über die Veranda Richtung Küchenfenster. Drinnen bereitete Sook, seine uralte (um drei Ecken verwandte) Großcousine, gerade ihre geheimnisvolle Medizin gegen Wassersucht und Rheumatismus zu. Normalerweise behielt Sook Truman immer im Auge. Aber momentan summte sie gedankenverloren ein Lied vor sich hin.
Truman stieg von der Veranda herunter, weil es ihn interessierte, wer dieser kleine Junge war. Seit er vor zwei Wochen in das Haus seiner Großcousinen gekommen war, hatte er noch keine Freunde gefunden. Es war Frühsommer und er sehnte sich danach, mit den vorbeilaufenden Jungen zu spielen, die auf dem Weg zum Schwimmteich waren. Also strich er seinen weißen Anzug glatt und spazierte langsam an den Spalieren der Glyzinien und Quitten vorbei, bis er zu der Mauer kam.
Truman war verblüfft. Er verzog das Gesicht. Nelles kurze Haare und die Latzhose hatten ihn in die Irre geführt. «Du bist … ein Mädchen?»
Nelle starrte ihn nur umso bohrender an. Trumans hohe Stimme, das weißblonde Haar und der Matrosenanzug hatten auch sie auf die falsche Fährte gelockt. «Du bist ein Junge?», fragte sie ungläubig.
«Ja, natürlich, Dummerchen.»
«Hmmpf.» Nelle sprang von der Mauer und landete direkt vor ihm. Sie war einen ganzen Kopf größer als er. «Wie alt bist du?», fragte sie.
«Sieben.»
«Du riechst komisch», stellte sie sachlich fest.
Er schnupperte an seinem Handgelenk, während er sie keine Sekunde aus den Augen ließ. «Das kommt von der Parfümseife, die meine Mutter mir aus New Orleans mitgebracht hat. Und wie alt bist du?»
«Sechs.» Sie schaute auf seinen Kopf und legte dann eine Hand darauf, wobei sie seine Stirnlocke platt drückte. «Wieso bist du so ein Knirps?»
Truman stieß ihre Hand weg. «Weiß ich nicht … Und wieso bist du so … hässlich?»
Nelle schubste ihn mitsamt seinem Buch auf die Erde.
«Hey!», schrie er mit knallrotem Gesicht. Sein schöner Anzug war schmutzig geworden. Wutschnaubend schob er den Unterkiefer vor (wo zwei Schneidezähne fehlten) und schaute sie finster an. «Das darf man nicht.»
Sie grinste. «Du siehst gerade aus wie eine der Bulldoggen vom Sheriff.»
Er zog seinen Kiefer wieder zurück. «Und du siehst aus wie–»
«Was um alles in der Welt hast du da überhaupt an?», fiel sie ihm ins Wort.
Eigentlich konnte sie selbst sehen, dass er seinen Sonntagsstaat mit dazu passenden Schuhen trug. «Man sollte immer bestmöglich aussehen, sagt meine Mutter», stieß er hervor und hatte Mühe, wieder auf die Beine zu kommen.
Sie kicherte. «Ist deine Mutter ein Admiral?»
Dann warf sie einen Blick auf das Buch, das immer noch auf dem Boden lag, und fing an, es mit ihrem nackten Fuß anzustupsen, bis sie den Titel erkennen konnte – Die tanzenden Männchen: Eine Sherlock Holmes Detektivgeschichte.
«Du kannst lesen?», fragte sie.
Truman verschränkte die Arme. «Natürlich kann ich lesen. Und ich kann auch schreiben. Meine Lehrerinnen mögen mich nicht, weil ich die anderen dumm dastehen lasse.»
«Mich kannst du nicht dumm dastehen lassen», sagte sie, schnappte sich das Buch vom Boden und sah sich dessen Rückseite an. «Ich kann auch lesen, dabei gehe ich erst in die erste Klasse.»
Damit drehte sie sich um und kletterte zurück auf die Mauer.
«Hey,