G. Neri

Tru & Nelle


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hatte gar nicht bemerkt, dass Nelle auch da stand. «Miss Nelle.» Nelles schmutzige Gestalt schien sie nicht zu beeindrucken und sie zögerte auch nicht, das laut auszusprechen. «Ich habe Schüler mit so viel Dreck in den Ohren, dass man Mais darin anbauen könnte. Aber sie arbeiten auf den Farmen. Was für eine Entschuldigung hast du vorzubringen?»

      «Kümmer dich gar nicht um sie, Nelle. Sie langweilt sich bloß wie ein Stück Brot, weil sie im Sommer keine Schüler hat, die sie rumkommandieren kann», sagte er. «Aber wenn du es wissen willst, Großcousine Callie, wir gehen jetzt in mein Zimmer und schauen uns Bücher an!»

      Schnell zog Truman Nelle in sein Zimmer, bevor Callie noch irgendetwas dazu sagen konnte. Mit ihr zu streiten, war sowieso ein sinnloses Unterfangen.

      Er machte die Tür hinter ihnen zu. «Endlich!», sagte er. «Hier schlafe ich.»

      Nelle sah sich um und steuerte sofort auf ein kleines Regal zu, in dem alle möglichen Kinderbücher standen. «Donnerwetter», sagte sie beeindruckt. «Wer braucht eine Bibliothek, wenn er die alle hat?»

      Sie legte den Kopf schräg, um die Titel entziffern zu können. «Welches Buch soll ich als Nächstes lesen?», fragte Nelle.

      «Tja, was gefällt dir denn? Abenteuer? Fantasiegeschichten?» Er versuchte, ihren Geschmack zu erraten. «Warte mal. Ich weiß, was genau das Richtige …»

      Er trat an sein Bett, griff unters Kopfkissen und zog ein schmales grünes Buch darunter hervor. «Das habe ich gerade ausgelesen. Sherlock Holmes, Der Mann mit dem geduckten Gang», sagte er und gab es ihr.

      Nelle betrachtete die Umrisse des Pfeife rauchenden Sherlock Holmes auf dem Einband. «Kommt Watson da drin auch vor?»

      «Selbstverständlich! Die beiden sind ein Team. Jeder weiß doch, dass beim Lösen von Kriminalfällen zwei Köpfe besser sind als einer.»

      Nelle zuckte nur mit den Achseln und schob das Buch vorsichtig in die vordere Tasche ihrer Latzhose. Erst dann bemerkte sie das zweite Bett neben Trumans.

      «Das ist eigentlich Sooks Zimmer», sagte er. «Sie haben mich nur hier einquartiert, bis ich wieder zu meiner Familie nach Hause gehe. So leiste ich ihr Gesellschaft, dem armen alten Ding.»

      Nelle nickte. «Ich muss mir ein Zimmer mit meinen großen Schwestern Bär und Weezie teilen.»

      «Du hast eine Bärin als Schwester?», fragte er.

      «Nein, Dummerchen, wir nennen sie nur so. Sie ist fünfzehn Jahre älter als ich und so groß wie ein Bär.»

      «Ich wünschte, ich hätte Schwestern, über die ich mich beklagen könnte», sagte er.

      «Nein, das wünschst du dir nicht. Du hast es doch perfekt – schläfst mit deiner besten Freundin im Zimmer und hast Bücher gleich neben dem Bett. Das ist doch … himmlisch.»

      Sie betrachtete verträumt das Regal und strich mit einem Finger über die Buchrücken: Tom Swift in Gefangenschaft, Das Geheimnis der Alten Mühle aus der Hardy Boys Serie, Nancy Drews Die verborgene Treppe.

      «Manchmal wünschte ich mir, meine Schwestern würden verschwinden und mich in Ruhe lassen.» Sie seufzte.

      «Denkst du das wirklich?», fragte er.

      Sie wurde nachdenklich. «Sie machen sich immer lustig über mich. Sagen, dass Mama mich unter einem Stein gefunden hätte und ich nicht wirklich zur Familie gehören würde, weil sie ja so viel älter sind als ich. Ich hab Daddy danach gefragt, und er hat gesagt, das stimme überhaupt nicht.»

      «Du hast Glück, einen Daddy zu haben, der auf deiner Seite ist …», sagte Truman, auch wenn Nelle ihm nicht wirklich zuhörte.

      Sie starrte aus dem Fenster. «Als sich letzte Woche beim Murmelspielen drei Jungs über mich lustig gemacht haben, hielt ich es einfach nicht mehr aus, also musste ich sie zum Heulen bringen.»

      «Wie denn?», fragte Truman.

      «Indem ich ihre Gesichter in den Dreck gedrückt hab. Und weißt du, was meine Schwestern dann gemacht haben? Sie haben sich auf die Seite der Jungs gestellt! Ist das zu fassen?»

      Truman wusste, wie es sich anfühlte, unerwünscht zu sein. «Ist das dein Zimmer da drüben? Mit dem Fenster neben der Hausecke?»

      Sie nickte.

      «Na gut, ich sag dir was. Wenn deine Schwestern sich jemals wieder gegen dich verbünden, dann gib mir ein Zeichen und dann schleich ich mich ans Fenster und erschreck sie zu Tode!» Truman kicherte voller Vorfreude.

      Nelle gluckste. Irgendwie mochte sie diesen seltsamen kleinen Jungen. «Danke, Tru.»

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      4.

       Zu heiss für Heckmeck

      Ich glaube, ich schmelze», jammerte Truman mit seiner unverwechselbaren Singsang-Stimme. Nachdem sie stundenlang Piraten, Ritter der Tafelrunde, zwei Runden Murmeln und dreimal Jacks gespielt hatten, gingen ihnen die Ideen aus, was sie machen könnten.

      Schwitzend und schläfrig ließen er und Nelle sich in den Schatten der Muskateller-Weinlaube plumpsen, wo es kühl war und ein Lüftchen wehte. Sie fächelten sich mit dem Kreuzworträtsel aus dem Monroe Journal Luft zu, das sie heute Morgen auch schon gelöst hatten.

      «Die Wirklichkeit ist so langweilig! Ich wünschte, in diesem Ort würde wenigstens einmal irgendwas Aufregendes passieren. Jetzt bin ich schon über einen Monat hier, und es ist mit New Orleans überhaupt nicht zu vergleichen.»

      «Tja, vielleicht ist es nicht so aufregend wie New Orleans», sagte Nelle. «Aber hier passieren trotzdem auch Sachen. Erst neulich ist wegen diesem schwarzen Jungen namens Edison eine ganze Menschenmenge auf dem Marktplatz zusammengelaufen, weil er alles nachmachen konnte, was man ihm sagte. Er konnte Vögel und Pferde imitieren, Mr. Barnett und sein Holzbein, die Baumwollentkörnungsmaschine, einfach alles. Ich hab ihn gebeten, den Postzug nachzumachen, und sofort fing er an, mit den Füßen über die Erde zu schlurfen, zu tuckern und zu tuten, wie eine Eisenbahnpfeife! So was sieht man nicht alle Tage!»

      Truman ließ sich nicht beeindrucken. «Ich schätze, wir könnten runter zum Drugstore gehen und nochmal ein paar Süßigkeiten umsonst bekommen.» Er drehte die Augen in seinem Kopf nach hinten und begann zu zucken und zu rucken, als hätte er Krämpfe.

      «Lass das. Wegen dir hat Mr. Yarborough beinah einen Herzanfall gekriegt. Sein Sohn ist Epileptiker, weißt du? Und ich glaube, er weiß genau, dass Krämpfe nicht mit Bonbons weggehen.»

      «Er hat uns trotzdem Lakritze geschenkt.»

      «Ja, um uns loszuwerden.»

      Truman setzte sich auf. «Wir brauchen irgendein Großstadt-Abenteuer. So was wie … stell dir vor, jemand würde verschwinden. Oder es gäbe einen Mord in der Stadt! Dann hätten wir wirklich was zu tun.»

      Nelle starrte ihn an, als hätte er den Verstand verloren. «Was zum Kuckuck hätten wir denn mit einem Mord oder einer Entführung zu tun?»

      «Na ja, den Fall lösen, natürlich. Wir könnten Detektive sein.» Er schnippte mit den Fingern. «Ich könnte Sherlock sein und du Watson! Das Gehirn und die Muskeln. Guck mal!» Er tat so, als würde er Pfeife rauchen.

      «Warum kann ich denn nicht – ach, egal. Hier wird sowieso nie jemand ermordet. Mensch, sogar als General Lee höchstpersönlich nach Monroeville kam, hat er es den langweiligsten Ort der Erde genannt!»

      Sie starrten beide in den tiefblauen Himmel von Alabama und zählten die kleinen weißen Baumwollbüschel, die aus der Baumwollentkörnungsmaschine durch die Stadt wehten.

      «Also, da hat er mal recht gehabt», sagte Truman schließlich. «Ich schätze, es ist zu heiß für Heckmeck.