G. Neri

Tru & Nelle


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geht’s um irgendein Vergehen. Manchmal ist das besser, als ins Filmtheater zu gehen.»

      Truman überlegte angestrengt. «Moment mal. Wie kommt es, dass man dich überhaupt reinlässt? Dürfen da nicht nur Erwachsene rein?»

      «Nein, zum Kuckuck!», sagte sie und zog ihn mit. «Man kennt mich hier, weil ich eben über gewisse Beziehungen verfüge …»

      Sie ging zum Haupteingang, vor dem ein paar Stadtpolizisten herumliefen. Einer der Officers, ein schwerfälliger Tölpel mit langem, zotteligem Bart, erkannte sie sofort. «Guten Morgen, Miss Nelle. Suchst du deinen Daddy?»

      «Nö, wir sind hier, um bei dem neuen Fall zuzusehen.» Der Polizist hob die Augenbrauen und schmunzelte. «Also, der ist allererste Sahne, Miss Nelle. Ich hoffe, du und dein Freund, ihr seid nicht so leicht zu erschrecken.»

      Truman hatte keine Lust, sich die Laune verderben zu lassen. «So schnell kriegen wir keine Angst. Denn Sie sollten wissen, ich habe der Gefahr schon aus nächster Nähe ins Auge geblickt, Sir. Als ich in New Orleans lebte, hielt ein Nachbar einen Tiger in seinem Keller.»

      «Was du nicht sagst», entgegnete der Polizist.

      «Doch das stimmt, Officer. Und Junge, Junge, dieser Tiger war vielleicht wild! Er hatte, soweit ich weiß, bereits zwei Menschen bei lebendigem Leib verschlungen.»

      «Warum hat er dich dann nicht gefressen?», fragte Nelle.

      «Na ja … Ich schätze, Tiger mögen mich», antwortete Truman ganz nüchtern. «Immer wenn ich ihn gestreichelt habe, hat er wie ein kleines Kätzchen geschnurrt. Eines Tages kam der Postbote vorbei, und wäre ich nicht da gewesen, wäre er von dem Tiger mit Haut und Haar verspeist worden!»

      «Was? Das übertrifft ja alles, was ich bisher gehört habe», sagte der Polizist und glaubte Truman kein Wort. «Also, ich schätze mal, wie heißt es so schön – Tiger fressen keine Knirpse!», gackerte er vergnügt.

      Die Officers lachten aus vollem Hals und betraten dann das Gerichtsgebäude. Truman blieb stur auf der ersten Treppenstufe stehen und kochte vor Wut.

      «Kommst du nicht mit? Du willst doch nicht etwa die Show verpassen», sagte Nelle.

      Truman rührte sich nicht, also packte ihn Nelle an der Hand und zerrte ihn in das Gebäude. Drinnen angekommen drängten sie sich durch die dicht beieinander stehenden Erwachsenen und erreichten eine schmale Treppe am anderen Ende der Eingangshalle. «Nun komm schon. Hier geht’s zu den besten Plätzen», erklärte sie und kletterte die hölzernen Stufen hinauf. Sie kamen zu einem Schild, auf dem NUR FÜR FARBIGE stand, aber Nelle beachtete es gar nicht und öffnete eine Tür. Dann standen sie auf einem menschenleeren Balkon, von dem aus man in luftiger Höhe den Gerichtssaal überblickte. Unten befanden sich eine Reihe Personen: der tölpelhafte Polizist von eben, ein schrulliger, alter Richter in schwarzer Robe, eine müde wirkende Gerichtsstenografin und ein enorm dicker Anwalt, der sich leise mit seiner Klientin beriet, einer weißen Frau, die seltsamerweise wie eine indische Prinzessin in goldene und schwarze Gewänder gekleidet war. Gegenüber von den beiden saß hinter einem Tisch ganz ruhig ein Mann in einem schlichten, dunklen dreiteiligen Anzug und mit einer Hornbrille auf der Nase. Er studierte jeden im Saal sorgfältig.

      «Dein Daddy arbeitet hier?», fragte Truman, als sie sich hinsetzten. «Er ist aber nicht dieser fürchterliche Polizist, oder?»

      «Nein, natürlich nicht.» Nelle zeigte auf den Mann mit der Brille. «Das ist er. Das ist A. C.»

      Nelles Daddy schaute auf seine Taschenuhr. Er schien ein ernsthafter, nachdenklicher Mann zu sein.

      «A. C.? Was ist das denn für ein Name?», fragte Truman.

      «A. C. steht für Amasa Coleman, aber seit ich denken kann, nennen ihn die Leute einfach A. C. Er ist Rechtsanwalt und Diakon … und Herausgeber des Monroe Journal

      Truman verspürte einen Hauch Eifersucht.

      «Psst!» Nelle versuchte, die Aufmerksamkeit ihres Vaters zu erregen. «A. C.!»

      Aber A. C. ignorierte sie. Er blickte erneut auf die Uhr und dann auf den leeren Stuhl neben sich.

      «Du sagst nicht Daddy zu ihm?»

      «Nö. Jeder nennt ihn A. C., warum dann nicht auch ich?», antwortete Nelle. «Hey, sieh mal, da tut sich was.»

      A. C. ging auf den Richter zu, der dann auch den anderen Rechtsanwalt zu sich rief. Sie sprachen leise miteinander, es ging hin und her, und gelegentlich schauten sie zu dem leeren Stuhl.

      Daraufhin schlug der Richter mit dem Hammer auf den Tisch. «Ist Mr. Archulus Persons im Saal anwesend?», fragte er schroff. «Gerichtsdiener?»

      Der Polizist meldete sich zu Wort. «Nein, Euer Ehren. Mr. Persons ward heute noch nicht gesehen.»

      Der Richter nickte und machte sich eine Notiz. «Also gut. Heute Nachmittag soll Haftbefehl gegen ihn erlassen werden … Ist der nächste Fall soweit?»

      Nelle wirkte verwundert. «Heiliger Bimbam. Scheinbar ist der Verdächtige geflohen! Hey, das ist doch spannend –»

      «Wir sollten besser gehen», meinte Truman leise. Er benahm sich, als hätte er einen Geist gesehen.

      «Ach, komm schon, es gibt doch noch einen weiteren Fall. Einer ist so gut wie der andere. Beispielsweise wurde Mr. Cooper vergangene Woche angeklagt, weil er Miss Anna Maes Pfirsichkuchen vom Fensterbrett gestohlen haben soll –»

      Doch da war Truman schon aufgesprungen und lief hinaus.

      «Truman! Wo willst du hin?»

      Er verschwand die Treppe hinunter, aber Nelle war ihm dicht auf den Fersen. «Tru! Warte!»

      Er rannte durch die Lobby, die Stufen vor dem Gerichtsgebäude hinunter und rechts in die Alabama Avenue. Als sie ihn schließlich mitten auf der Straße am Ellenbogen erwischte und festhielt, war sie so atemlos und durcheinander, dass sie nicht einmal sah, wie das Auto auf sie beide zuraste.

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      6.

       Eine knappe Sache

      Das Gehupe und die quietschenden Reifen erschreckten sie beide fast zu Tode. Plötzlich starrten sie in zwei Scheinwerfer.

      «Truman! Da bist du ja!»

      Truman blinzelte und sah schemenhaft, wie sich eine Gestalt in dem Cabriolet aufrichtete, die nun durch den hochgewirbelten roten Staub in seine Richtung spähte.

      «Daddy?», fragte er wie unter Schock.

      Nelle ließ seinen Arm los. Vor Schreck hatte sie sich in die Hose gemacht.

      Während sie mit rotem Kopf dastand und nicht wusste, was sie als Nächstes tun sollte, ging Truman um den Wagen herum zur Beifahrerseite. Sein Vater trug einen Panama-Strohhut und grinste von einem Ohr zum anderen.

      «Daddy», sagte Truman atemlos.

      «Komm, mein Sohn», sagte der und öffnete die Beifahrertür. «Wir müssen los. Jetzt

      Truman stieg ein und warf sich seinem Vater in die Arme.

      Der drückte ihn fest an sich, blickte aber nervös um sich. «Ich wollte dich überraschen. Bist du überrascht?»

      Truman nickte und traute seinen Augen nicht. Zwei Monate hatte er den Vater nicht gesehen.

      «Ich würde schon sagen, dass er überrascht ist!», sagte Nelle, deren Verlegenheit sich in Zorn verwandelt hatte. «Wo haben Sie denn bloß gesteckt? Also, wenn mein Daddy mich jemals so lange allein lassen würde, dann –»

      «Wer ist denn dein reizender Freund, Truman?», fragte er. «Er scheint ein temperamentvoller Bursche zu sein.»

      Da