Joseph Roth: Gesamtausgabe - Sämtliche Romane und Erzählungen und Ausgewählte Journalistische Werke
ihr unermüdliches, mit Landregengleichmaß und stetig rinnendes Weinen nicht aus ihrer Seele kam, sondern wie von außen her; etwas Fremdes, Plötzliches, Überfallendes, gegen welches sich zu wehren nutzlos, das zu verhüllen ohne Zweck war.
In dieser Nacht liebte ich Anna, wie zum ersten Male, mit der Zärtlichkeit und der Freude, mit der man einen ganz neuen Besitz umhüllt.
Am nächsten Morgen erlebte ich die letzte Geschichte dieses Städtchens.
Sehr früh saß der Reisende schon im Kaffeehaus und aß Kuchen. Er aß nicht mit der Hand, sondern umständlich mit Messer und Teelöffel, denn der Reisende war ein feiner Mann und wußte sich zu benehmen. Er aß sehr lange an seinem Kuchen. Dann stand er auf, ging zum Wandkalender und riß das Datum von gestern herunter, entschieden und so, als schüfe er das Heute, den neuen Tag, stolz und machterfüllt wie ein Gott. Mir bangte vor der Ankunft des Postdirektors.
Der Herr Postdirektor riß seit Jahrzehnten die alten Tage ab und entschleierte die neuen, behutsam und demütig, nicht wie ein Gott, sondern wie ein Diener Gottes. Heute würde er entsetzt nach dem Wandkalender sehen, irre werden in den Wochentagen und Daten und die Welt nicht mehr verstehen.
Deshalb hob ich den zerknitterten Zettel auf, glättete ihn und brachte ihn, so gut es ging, wieder am Wandkalender an.
Der Reisende sah mir zu und sagte: »Mein Herr, heute ist der achtundzwanzigste Mai!«
Ich erschrak fast, so laut sagte er das Datum dieses Tages, und obwohl es eine sehr einfache Sache war, und alle Welt es wissen mußte, schien mir, als hätte der Reisende ein scheues Geheimnis mit unverschämter Roheit ausgebrüllt.
Der achtundzwanzigste Mai!
In diesem Augenblick schlug die Turmuhr halb acht, der Herr Postdirektor trat ein, seine Sporen klirrten leise und übermütig, sie kicherten, und der Herr Postdirektor ging feierlich an den Wandkalender und enthüllte den neuen Tag. Erst jetzt war’s der achtundzwanzigste Mai geworden!
Dieser achtundzwanzigste Mai wurde einer der wichtigsten Tage meines Lebens. Ich beschloß nämlich abzureisen.
Was hätte ich auch länger tun sollen in diesem Städtchen? Das Mädchen am Fenster mußte sterben, Anna tat mir weh, ihr Anblick schmerzte mich, und ich konnte ihr nicht helfen. Den Briefträger kannte ich schon auswendig und das silberne Sporenklimpern des Herrn Postdirektors auch. Käthe, dachte ich, wird jeden Morgen um die gleiche Stunde ihr Fenster aufklinken, und es wird nichts dabei sein, wenn ich nicht mehr vorübergehend guten Morgen sage. Und es war schon der achtundzwanzigste Mai.
Am achtundzwanzigsten Mai konnte ich unmöglich länger bleiben. Fast ohne daß ich es gesehen hätte, waren die Ähren auf den Feldern mannshoch und noch darüber gewachsen. Wenn ein halbes Dutzend aufeinanderstehender Hasen durch die Felder geschossen wäre, man hätte nicht einmal eine Ohrenspitze des letzten und obersten gesehen. Es war ein gesegnetes Jahr, und in den Obstgärten lag der Blütenschnee so dicht und hoch, daß man mit nackten Füßen hätte gehen können und die Gartenerde nur wie eine ferne Wirklichkeit fühlen.
Auch sah man es den Wolken bereits an, daß sie nicht mehr von Jugend und Sorglosigkeit getrieben auf dem Himmel herumlümmelten, sondern mit bedächtiger Beschwer dastanden oder ihre fruchtbaren, schwellenden Leiber wälzten, um einer Pflicht zu genügen. Am achtundzwanzigsten Mai weiß man bereits, was man will.
Es ist, dachte ich, so lächerlich, daß ich hier Abend für Abend vor dem Fenster eines Mädchens wandere, das sterben wird und das ich niemals küssen kann. Ich bin nicht mehr jung, dachte ich. Jeder Tag ist eine Aufgabe, und jede meiner Stunden war eine Sünde am Leben.
Einmal träumte ich von einem großen Hafen. Ich hörte ein machtvolles Klirren von zwanzigtausend Schiffsketten und das Brüllen beschäftigter Matrosen. Ich sah, wie schwere Kräne sich hoben und senkten, glatt und selbstverständlich und ohne Mühe, als würden sie nicht von Menschen in Bewegung gesetzt, sondern als arbeiteten sie aus eigenem und nach göttlichem Willen. Es war nicht der Krampf des Eisens, sondern die leichte Gelenkigkeit natürlicher Kräfte.
Manchmal träumte ich von einer großen Stadt, es war vielleicht New York. Ich atmete das Rasseltempo ihres Lebens, ihre Straßen rannten groß, breit, unaufhaltsam, mit Menschen, Fahrzeugen, Pflastersteinen, Laternenpfählen, Litfaßsäulen, ich weiß nicht, wohin und wozu. Die Stadt stand nicht, sondern lief. Nichts stand. Große Fabriken qualmten aus riesigen Schornsteinen den Himmel an. In sekundenkurzen Pausen hielt ich die Augen geschlossen, um die Melodien dieses Lebens zu hören. Es war eine greuliche Musik; sie klang so wie die Melodie eines verrückt gewordenen ungeheuren Leierkastens, dessen Walzen durcheinandergeraten waren. Diese Musik aber reizte auf. Es war nur häßlicher, nicht falscher Rhythmus. Eine Weile schrie ich im Rhythmus mit, dann erwachte ich.
Als ich wach war, wunderte ich mich, daß ich eigentlich nicht mehr Teil der Stadt war, sondern gänzlich losgelöst von ihr und lächerlicher Bewohner eines lächerlichen Städtchens. Was war ich denn eigentlich? Der Mann unterm Fenster. Freund, sagte ich zu mir, begrabe dieses Mädchen, das ohnehin nicht mehr lebt, und gib dich mit dem Leben ab. Wichtig ist das Leben. Es hätte vielleicht mehr Sinn (nach den gültigen Regeln menschlicher Vernunft hätte es mehr Sinn), zu dem Mädchen hinaufzugehen und tagsüber an ihrem Bett zu sitzen und des Abends mit ihr am Fenster und ihr ein bißchen von dem ungeheuren Chaosrasseln mitzubringen und dem vielen roten Blut, das durch die Adern der Welt floß.
Aber wichtiger ist das Leben.
Indem ich so grausam zu mir sprach, versuchte ich, den Schmerz zu begraben. Ich begrub ihn unter einem Wall von Grausamkeit.
Ich fuhr in der einzigen Droschke der Stadt, in der ich gekommen war, zurück. Anna hatte ich nichts gesagt.
Es war später Nachmittag. Die Sonne rann in goldenen breiten Strömen. Der Bahnhof kauerte, wie eine große gelbe Katze, in der Sonne. Die Schienenstränge liefen weit in die Welt, eisern umspannten sie die Erde.
Als ich im Zug saß und zum Fenster hinaussah, war ich bereits von der Stadt und von den letzten Wochen durch Grausamkeit, Freude, Kraft getrennt.
Mochte der Briefträger sich einen Rausch antrinken, der Postmeister mit seinen Tschinellen klirren, der Reisende nach Pomade duften. Der Kellner Ignatz feuchte Hände haben.
Anna seine Geliebte werden.
Und das Mädchen am Fenster? –
Es kann sterben! – sagte ich und schäme mich nicht, zu gestehen, daß ich mich bei dieser Gelegenheit über meine Gesundheit freute.
Was war das für eine Krankheit, in der ich die letzten Wochen zugebracht hatte? Was war doch mein Freund Abel für ein sentimentaler Kerl? Nie, nie, nie würde ich aus New York wegfahren einer Frau wegen.
Ja, ich will gerade jetzt nach New York fahren, Amerika ist ein herrliches Land. Kein steinerner Bischof hat es gegründet.
Während ich so dachte, pfiff der Zug und tat einen Ruck. In diesem Augenblick trat der lange Eisenbahnassistent mit der roten Kappe aus der Tür seiner Amtsstube auf den Perron. Die Tür war noch eine Weile offen.
Und hinter dem Eisenbahnassistenten kam ein wunderschönes Mädchen. Es war, es war das Mädchen vom Fenster.
»Bleib noch!« – hörte ich den Eisenbahnbeamten zu ihr sagen. »Ich bin gleich fertig!«
Das Mädchen aber hörte ihn nicht. Es sah mich an. Wir sahen uns an. Sie stand aufrecht, im weißen Kleid, gesund und gar nicht lahm und auch gar nicht schwindsüchtig. Offenbar war sie die Braut des Eisenbahnbeamten oder seine Frau.
Während der Zug noch einmal anzog und leise zu rollen anfing, winkte ich und sah dem Mädchen in die Augen. Nur dieses Blickes wegen habe ich diese Geschichte geschrieben.
Im Kupee war mir, als hätte ich die Pflicht, zu weinen. Ich aber lachte, sah, wie auf dem Felde ein Hirt seinen Hund schlug, ein Streckenwächter mit dem Signal strammstand, seine Frau Wäsche trocknete und ein kleiner Landwagen auf einem Feldweg torkelte.
»Das Leben ist sehr wichtig!« lachte ich. »Sehr wichtig!« und fuhr nach New York.