Joseph Roth: Gesamtausgabe - Sämtliche Romane und Erzählungen und Ausgewählte Journalistische Werke
worden, um plötzliche Unglücksfälle rasch und sicher mitteilen zu können. Allmählich, seitdem sie Witwe geworden war, und besonders seit dem Ausbruch des Krieges, hatte sie auch angefangen, »sich einzuschränken« – wie sie zu sagen liebte – und bei jedem Telegramm, das Paul ihr schickte, nachzurechnen, wieviel es gekostet haben mochte. Ihre Freude über die Ankunft Pauls entsprach, als sie sein Telegramm las, ungefähr dem Schrecken, der sie ergriffen hatte, als es angekommen war, und ihrem Schmerz über die verschwendeten Spesen. Und es dauerte verhältnismäßig lange, ehe sie den Sinn der Botschaft, befreit von dem Schrecken und dem Trieb, die Worte zu zählen, in seiner ganzen freudigen Bedeutung erfaßte.
Sie wußte von Pauls langer Krankheit ebenso wie von seiner Verwundung. Da er ihr aber niemals mitgeteilt hatte, daß er zur Infanterie gegangen war, blieb der Optimismus, mit dem sie der Kavallerie stets vertraute, von Anfang bis zu Ende unverändert. Und selbst, als sie von der Verwundung Pauls erfuhr, kam es ihr nicht einen Augenblick in den Sinn, daß er auch hätte sterben können. Bei der Kavallerie verwundet werden bedeutete ihr ungefähr soviel, wie sich mit dem Taschenmesser in den Finger schneiden. Auch Typhus war ihrer Ansicht nach für einen Berittenen nicht lebensgefährlich. »Paul ist Offizier«, sagte sie, »er wird bestimmt sorgfältig gepflegt.« Nicht eine Stunde während des Krieges hatte ihre Sorge ihrem Sohn gegolten, aber Tag und Nacht dem Geld. Sie hatte Angst vor der Armut. Sie sah, daß man die ganze Zeit wenig Einnahmen und viele Ausgaben buchte. Herr Merwig, ein alter Mitarbeiter ihres Mannes, kam jeden Monat zu ihr und berichtete über den Gang der Geschäfte. Der Ausgang des Krieges, die Revolution, die Krüppel auf den Straßen und die Überzahl der Bettler, die nach ihren Worten »das Haus einrannten«, beschäftigten sie so sehr, daß ihr die Rückkehr Pauls kaum ein paar Minuten freudiger Aufregung brachte. Am Abend, als Theodor nach Hause kam, zeigte sie ihm das Telegramm. Er legte es, säuberlich gefaltet, ohne ein Wort zu sagen, auf den Tisch und begann, die Zeitung zu lesen. Frau Bernheim ergriff das Lorgnon, das immer an ihrer Hüfte hing und an eine Waffe erinnerte, ließ die Gläser hörbar aufschnellen, führte sie an die Augen und betrachtete ihren Sohn, als schaute sie auf die Bühne. Sie liebte es, das Lorgnon zu gebrauchen, wenn sie ungehalten war. Sie hatte die Erfahrung gemacht, daß die Dienstboten vor den Gläsern erschraken. Theodor hörte ihr Geräusch und neigte den Kopf noch tiefer über die Zeitung.
Frau Bernheim ließ das Lorgnon wieder fallen. Nach einigen Sekunden sagte sie: »Du hast ebensowenig Herz, wie dein Vater gehabt hat. Aber er war wenigstens klug. Er hatte einen genialen kaufmännischen Geist.
Du aber bist auch noch ein Taugenichts. In diesen ganzen Jahren hast du nichts gelernt. Wenn es diese famosen Notprüfungen nicht gegeben hätte, wärest du ewig in der Schulbank geblieben oder ein Schuster geworden. Du erinnerst mich ganz an den seligen Vetter Arnold. Er hat Schulden gemacht und ist im Irrenhaus gestorben. Und das hat auch Geld gekostet, sonst hätten wir die Freude gehabt, ihn im Kriminal zu sehen.«
Sie wartete ein paar Minuten. Dann, als Theodor noch immer in der Zeitung las, schrie sie plötzlich: »Wir haben kein Geld mehr, Theodor, hörst du? Wir haben kein Geld mehr, um Taugenichtse vor dem Kriminal zu retten! Du wirst in Eisen sitzen müssen, hörst du?!«
Theodor legte beide Hände an die Ohren und las weiter in der Zeitung. »Leg die Zeitung sofort weg, wenn deine Mutter mit dir spricht«, fuhr Frau Bernheim leiser fort.
Theodor nahm sofort die Hände von den Ohren, hörte aber nicht auf zu lesen.
Manchmal gelang es ihm, so lange zu schweigen, bis sie das Zimmer mit einem lauten Seufzer verließ. Heute aber schien sie nicht weichen zu wollen. Sie machte sich wieder ans Reden. Sie begann, mit einer Stimme, deren Eintönigkeit aufreizte, langsame, gleichmäßig langsame Sätze wie Garn abzuspulen. Bei jedem Satz hatte Theodor das Gefühl, daß er niemals aufhören werde. Als wüßte Frau Bernheim, daß diese Art zu sprechen auf ihren Sohn Eindruck machte, unterstützte sie die Eindringlichkeit ihrer Rede durch gleichmäßige, glättende Bewegungen auf dem Tischtuch. Unaufhörlich und in dem langsamen Tempo, in dem sie sprach, wischten ihre flach ausgestreckten Hände nach links und rechts die Kanten des Tisches. Obwohl Theodor in die Zeitung versenkt war, stahlen sich die weißen, bläulich geäderten Hände der Mutter in sein Blickfeld, und allmählich ergriff ihn vor diesen schwachen Händen der alten Frau eine Angst wie vor Mörderhänden. Er rührte sich nicht. Er hörte auf zu lesen. Die Kolonnen der Zeitung verschwammen vor seinen Blicken. Aber er ließ nichts erkennen, und zum Beweis dafür, daß er nur mit der Lektüre beschäftigt sei, blätterte er langsam die Zeitung um, in demselben Tempo, in dem die Rede seiner Mutter rann, und gebannt von ihrem Rhythmus.
»Wenn ein Bruder aus dem Krieg nach Haus kommt«, sagte Frau Bernheim, »hat ein anständiger Mensch sich zu freuen. Dir aber tut es leid, daß Paul nicht umgekommen ist. Glaubst du nicht, daß eine Mutter alles von ihren Kindern weiß? Gott ist mein Zeuge, unser seliger Vater weiß es auch, er hat es mir nie glauben wollen, und ich habe ihm immer gesagt, was du für ein tückisches Kind bist, boshaft wie eine Spinne und falsch wie eine Katze und dumm wie ein Esel. Eine ganze Naturgeschichte bist du, und die ganze Erziehung war umsonst, man kann, hab’ ich immer zu Felix gesagt, keine Kinder erziehn, wenn sie es nicht von der Geburt mitbekommen haben, die Seele, glaub’ ich, und das ist es auch, du hast keine Seele. Wenn du nicht Angst hättest, würdest du deine alte Mutter schlagen, du möchtest mich schon als Leiche sehn, schrecklich, als Leiche. Aber ich werde nicht ruhig sterben, bis ich nicht weiß, daß du ein anständiger Mensch geworden bist, du kannst es aber nicht werden, was machst du denn die ganzen Tage, du gehst mit deinen lieben Freunden herum, die mir alle nicht gefallen, Paul hat in deinem Alter schon getanzt, er war ein wundervoller Tänzer und hat schon hübsche junge Damen charmiert und hat nicht den ganzen Tag in den Wäldern gelegen und hat nicht herumgeschossen wie du, ich habe Angst vor deinen Raubmessern und Mordpistolen, Anna will nicht mehr dein Zimmer aufräumen, soll ich es vielleicht selber tun …?«
Eine dunkle, fast bläuliche Röte überzog das Angesicht Theodors. Hastig schmiß er die raschelnde Zeitung auf den Boden. Er erhob sich, warf mit einem Fuß hinter sich den Stuhl um, seine kleinen, rollenden Augen hinter der dunkel geränderten Brille schienen auf dem langen und breiten Tisch nach einem Gegenstand zu suchen, den man nach der Mutter werfen könnte. Da er gar nichts fand, begann er, sinnlos zwanzigmal hintereinander zu schreien:
»Heb sie auf, die Zeitung, heb sie auf, heb sie auf, heb sie auf, Mutter, heb die Zeitung auf, Mutter, Mutter!«
Er war im Nu wieder blaß geworden.
Sein flaches, gelbes, dünnes Angesicht erinnerte an ein ungegorenes, im Ofen eingefallenes Brot. Es war mehr nach innen gewölbt als nach außen. Die Nase schien bis zur Spitze, die zart, blutleer und stumpf hinaufragte, noch zu den Wangen zu gehören. Die Lippen waren dünn und schlossen nicht ganz über den langen Zähnen. Das Kinn streckte sich nach vorne wie bei Menschen, die ihren Kopf zwischen hochgezogenen Schultern zu tragen pflegen. Die Ohren waren gelb, groß und durchsichtig wie aus Pergament und randlos, als hätte ihre Substanz für die Ränder nicht mehr ausgereicht. Über der noch kurzen, knabenhaften Stirn, die aber wie die Stirn eines Alten von vier, fünf Längsfalten durchquert war und zwei dicken, vertikalen Strichen über der Nasenwurzel, erhob sich dünnes, wasserblondes Haar, krampfhaft aufwärts gekämmt. Die wasserhellen Augen hinter den funkelnden Gläsern hatten einen erschreckten Ausdruck. Sie waren wie die Augen eines, der in ein plötzlich ausgebrochenes Feuer blickt. Die Stimme wurde hell und kläglich. Man hätte glauben können, Theodor rufe seine Mutter zu Hilfe, während er ihr zurief, sie möge die Zeitung aufheben. Er begann zu beben. Um seine Zähne nicht klappern zu lassen, biß er sie aufeinander. Und so, die Zunge hart an den Zähnen, versuchte er eine Art von lispelndem, schwerverständlichem Schreien:
»Heb die Zeitung auf, heb ssie auf, heb ssie auf!«
Frau Bernheim, die derlei Ausbrüche Theodors nicht ohne eine gewisse Schadenfreude genoß, hob wieder das Lorgnon. Sie schätzte diese Augenblicke. Es waren die einzigen, in denen sie sich wirklich überlegen fühlen konnte – und in denen ihre Logik auf einmal wach wurde, wie angeregt von der vollkommenen Sinnlosigkeit des andern. Obwohl ihr Mund sich nicht verzog, leuchtete in ihren harten Augen schon der Widerschein eines Lächelns, während sie mit ruhiger Stimme den Augenblick ausfüllte in dem Theodor atemlos und stumm dastand:
»Du