Joseph Roth: Gesamtausgabe - Sämtliche Romane und Erzählungen und Ausgewählte Journalistische Werke
Holzriegel zurück, langte nach dem Päckchen, ließ mich ein und schob den Riegel wieder vor. Durch Martins enge Kammer stolperte ich über zerbrochene Stuhl beine und riesengroße, knorrige Kartoffeln zur zweiten Türe hinaus, durch die ich in den Friedhof trat. Ich zündete mir eine Zigarette an, um die Heuschrecken und Wespen zu vertreiben, und wandelte stundenlang zwischen den Gräbern, las die verschiedenen Inschriften, setzte mich wohl auch auf einen halb in den Boden gesunkenen Stein und lebte so einige Stunden in längst verrauschten Zeiten mit längst vergangenen Geschlechtern.
Unter den neuen Grabsteinen trug einer die Inschrift:
Markus Möllner, ums Leben gekommen am 15. Juni 1901.
Den alten Markus hatte ich wohl gekannt. Er war oft Gast im Hause meines Großvaters gewesen, und der wunderlichen Geschichten, die er mir zu erzählen pflegte, erinnerte ich mich noch sehr wohl. Allein, ich wollte noch Näheres aus seinem Leben wissen, und ich beschloß, mich bei den Stadtältesten zu erkundigen. Der erste, den ich fragte, war natürlich Martin. Er gab aber an, von einem Markus Möllner keine Ahnung ZU haben. Ich versprach ihm Tabak – das half. Martin erzählte mir die Geschichte.
In den letzten Jahrzehnten des neunzehnten Jahrhunderts teilte sich die Bevölkerung meiner Vaterstadt in zwei Gruppen: Es gab nur sehr Reiche und sehr Arme. Man könnte ebensogut sagen: Herren und Diener. Denn die Armen schien der liebe Herrgott, der es allezeit mit den Reichen hält, nur zu dem Zwecke geschaffen haben, um den Reichen das Leben zu erleichtern. Kurz, es gab Patrizier und Plebejer. Die letzteren dienten den Vornehmen entweder direkt als Kutscher, Köche, Dienstboten, Lakaien oder indirekt: D. h., sie waren Vermittler von Dienstpersonal, Zuträger, Makler, brachten Eier, Butter und Geflügel in die Häuser der Reichen, übernahmen Botengänge um ein warmes Mittagessen, buken, wuschen und lebten überhaupt von und für die Reichen. Diese hatten natürlich sämtliche Ehrenämter der Stadt inne. Sie waren Gemeinderäte, Verwalter öffentlicher Anstalten, Waisenhausväter und Schulinspektoren. Sie trugen stets feierliche schwarze Kleider, blitzblanke Zylinder, glänzende Stiefel, hatten runde Bäuchlein unter buntgeblümten Westen und goldene Uhrkettlein darüber, und ihre Brust zierten bei feierlichen Anlässen verschiedene hohe Auszeichnungen. Ihre Söhne schickten sie in der Regel ins Gymnasium. Wenn diese sich mit knapper Not durch den mit Gleichungen vierten Grades und unregelmäßigen Verben vollbesäten Weg zum Ausgangstor der Maturitätsprüfung durchgeschlagen hatten, so bekamen sie entweder irgendeine staatliche oder private Beamtenstelle oder reisten in die Hauptstadt, um nach vollendeten Universitätsstudien als Ärzte, Advokaten, Gymnasiallehrer usw. in ihre Heimat zurückzukehren. Freilich kam es auch hie und da vor, daß einer oder der zweite von ihnen so ganz aus der Art geschlagen war, daß er in die Heimat zurückzukehren vergaß und in des lieben Herrgotts wunderschöner Welt irgendwo spurlos verschwand. Doch das war recht selten der Fall, und in ewig-gleichem Geleise schlich das Leben in meiner Vaterstadt seinen Schneckengang weiter.
Da war aber einer und just der Sohn des Herrn Bürgermeisters, der sich das Ungeheuerliche vermaß, sein Heimatstädtchen aus der behaglichen Dahinduselei zu rütteln und die braven Gemüter seiner ehrenhaften Mitbürger in eine nervöse Spannung zu bringen.
Der junge Markus war schon auf dem Gymnasium ein Exemplar gewesen. Er konnte den Mädeln den Kopf verdrehen, hatte bunte Abenteuer, stritt sich mit seinen Lehrern herum, und - was das allerschlimmste war und den Herrn Bürgermeister und dessen vollbusige Gemahlin in Angst und Schrecken versetzte: Markus machte Verse. Nichts konnte ihn davon abbringen: weder Strafen noch Prügel, noch Drohungen, daß man ihn aus dem Hause schicken würde, konnten fruchten. Markus machte Verse.
Er haßte das Gymnasium, er haßte die Gesetze, er haßte die ganze kleinstädtische, enge Welt, in der er verurteilt war zu leben. Er atmete daher auf, als er mit Weh und Ach die Matura bestanden hatte und nun frei seine Schwingen entfalten konnte. Er rollte schließlich, mit allerlei notwendigen und unnützen Dingen vollbepackt, von väterlichen Mahnungen begleitet und mütterlichen Tränen benetzt, dem Ziel seiner Sehnsucht, der Hauptstadt, zu. Dort inskribierte er Jus – er war Student.
Aber Gesetze und Pandekten – das war es gerade nicht, was dem jungen Markus behagen konnte. Er schwänzte die Vorlesungen, kümmerte sich nicht im geringsten um die Studien, lebte in Saus und Braus, trank und spielte und verlor Unsummen. Wenn ihn der Herr Papa, »der Alte«, wie ihn Markus nannte, in seinen nicht allzu häufigen und langen, aber sehr inhaltsreichen Briefen ermahnte, doch einmal zur Prüfung zu steigen, so antwortete Markus, er sei schon längst vorbereitet, die Prüfung wäre ein Kinderspiel, aber daran, daß er sie noch immer nicht hinter sich habe, sei niemand anderer Schuld als eben der Herr Papa. Es gehe nämlich, schrieb Markus, auf der Universität alles nach dem Alphabet, und da er Zwerdling heiße und also als der letzte im Kataloge stehe, vor ihm aber nicht weniger als neuntausend, sage neuntausend Hörer seien, so müsse er eben warten. Der gute Bürgermeister war sein Leben lang Kaufmann gewesen und hatte von Universität und Studieren nur einen sehr blauen Dunst. Fragte er aber einen Gymnasiallehrer, ob sich es wirklich so auf den Hochschulen verhalte, so zwinkerte dieser mit den Augen, dachte sich, dem jungen, reichen Manne wären wohl ein paar lustige Jährchen zu gönnen, und behauptete, es könne wohl möglich sein, daß eine neue Studienordnung den Zutritt der Hörer zu den Prüfungen nach dem Alphabet geordnet verlange. Der Herr Bürgermeister beruhigte sich und schickte seinem Sohn mit biedermännischer Pünktlichkeit jeden Ersten die verlangte Summe. Als aber aus der Hauptstadt etliche Male Mahnungen auf größere Summen gekommen waren, da schnürte der Herr Bürgermeister seinen Ranzen, vergaß auch den großen Regenschirm nicht mit dem Griff aus echtem Elfenbein und fuhr nach Wien.
Er traf seinen Sohn zu Hause in der Gesellschaft von Freunden und Freundinnen, bei einem überaus geräuschvollen Gelage. Seinen Herrn Papa hatte nun der Markus am wenigsten erwartet. Es mußte rasch eine Ausrede gefunden werden. Ein bemoostes Studentenhaupt wurde als ein Herr Professor vorgestellt, der just heute seinen Geburtstag feire, und zwar im Hause seines geliebtesten Schülers. Das wäre nun so ziemlich gegangen, allein der Herr Bürgermeister fragte sich mit Recht, was denn wohl die Frauenzimmer beim Geburtstage des Herrn Professor zu machen hätten, überlegte bloß einen Augenblick, bat den Herrn Sohn ins Vorzimmer und versetzte ihm dort zwei schallende Ohrfeigen, darob sich die Tafelrunde entsetzte und, ein ähnliches Schicksal befürchtend, mitsamt dem Herrn Professor eilig das Feld räumte. Aber mit den Ohrfeigen war die Geschichte noch lange nicht zu Ende. Es gab noch einen großen Krach, Herr Zwerdling senior gab sein bürgermeisterliches Ehrenwort, von seinem Einzigen nichts mehr wissen zu wollen, setzte sich auf die Eisenbahn und fuhr nach Hause. Weder das Zureden seiner Freunde noch die Tränen der Frau Bürgermeisterin wollten helfen. Markus aber war verschollen.
Jahre waren vergangen. Längst ruhte der Bürgermeister mit seiner Ehegattin in der kühlen Erde. Ihr Haus hatte ein biederer Fleischer erworben, vor dessen Ladentüre rote Lampen brannten und die saftigen Fleischstücke in der Auslage grell beleuchteten. Ein neuer Geist war ins Städtchen gekommen. Es war der Geist der Demokratie und der Elektrizität, Fabriken schossen wie über Nacht aus dem Boden, Fremde kamen und gingen, ein prachtvolles Hotel wurde gebaut, ein Bürgermeister von ganz anderem Schlage, als es der gottselige Herr Zwerdling gewesen, thronte auf dem Kurulensessel im Rathause. Da kam eines Tages der Markus heim. Er trug einen wilden grauen Bart und einen Schlapphut, eine Künstlerkrawatte und einen langen Rock und zerrissene Schuhe. Er begab sich zum Besitzer des Hauses, das einstmals seinen Eltern gehört hatte. Was zwischen den heiden gesprochen worden, hat keiner je erfahren. Aber noch am selben Tage bezog Markus ein kleines Erkerstübchen im Hause des Fleischers, kaufte sich einen blitzblanken, wenn auch ganz unmodernen Zylinder, einen schwarzen Schlußrock und ebensolche Stiefel. Hierauf machte er Visiten bei den Reichen der Stadt. Überall mußte er erzählen. Markus erzählte. Aber schlau wußte er seine interessante Erzählung immer mit einer Bitte abzuschließen, die man ihm gewähren mußte. Immer aber bat er um Kleinigkeiten: ein Rasiermesser, eine Krawatte, eine Busennadel. Das bekam er und noch obendrein mehr. Er aß nämlich täglich irgendwo zu Mittag. Die Leute, die den alten Bürgermeister noch wohl gekannt hatten, mochten sich wohl eine Ehre daraus machen, den jungen Zwerdling zu Gaste zu haben. Die Vermögenden nahmen sich gerne seiner an. Aber mit der Zeit wurde aus dem Gaste ein Hausgerät. Markus war ein besserer Dienstbote, der alle Aufträge zur größten Zufriedenheit der Auftraggeber ausführte.
Marcellus besaß eine große Geschicklichkeit