Йозеф Рот

Joseph Roth: Gesamtausgabe - Sämtliche Romane und Erzählungen und Ausgewählte Journalistische Werke


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Student Günther ist schuldig.

      Entscheidet das Los?

      »Ich übernehme die Aufgabe!« sagte Klitsche.

      Man schweigt. Der Atem staunender Verehrung schlägt Klitsche entgegen. Man singt ein Trutzlied:

      Der Verräter zahlt mit Blut,

      Schlagt sie tot, die Judenbrut,

      Deutschland über alles.

      Es war eine Freiturnübung in Weißensee angesagt, unter dem Kommando des Leutnants Wachtl. Hundert Schritte von den anderen entfernt gingen Klitsche, Theodor und Günther. Gast war Günther, herzlich begrüßt und mit Witzen unterhalten. Man hörte das starke Lachen Klitsches.

      Sie blieben stehen, beschlossen zu rasten, es hackte ein Specht unermüdlich, schüchtern pfiff ein Vogel, Hunderte Mücken tänzelten in der ungewöhnlich warmen Aprilsonne, frisch und betäubend roch der Waldboden.

      Theodor möchte gern das Ende des Waldes sehen. Ach! Der Wald hat kein Ende, Theodor fiebert, er spürt einen Druck auf der Schädeldecke, als lasteten viele, viele Baumstämme auf seinem Kopfe. Tränen überquellen sein Auge, er kann nicht mehr sehen, er läßt sich neben Günther nieder.

      Jetzt wartet er, wartet wie auf seinen eigenen Tod. Es kam zu schnell. Zu schnell. Theodor sah vor sich unzählige Baumstämme, die das Sonnenlicht brachen und dämpften. Aber die Bäume waren körperlos, Schattenbäume, sie standen nicht fest, sie befanden sich in einer fortwährenden, unmerklichen Bewegung, als wäre der ganze Wald eine Kulisse aus dünnem Schleierstoff, von einem ganz sanften Wind bewegt. Deutlicher als die Baumstämme, die sich vor ihm befanden, sah Theodor den Detektiv Klitsche hinter sich; sah, wie er eine Beilpicke erhob, mit beiden Händen, und sich reckte, fühlte, wie Klitsche den Atem anhielt, und dann schloß Theodor die Augen. Als er sie wieder aufschlug, sah er Günther neben sich niederbrechen, sah er den halboffenen Mund des Liegenden, den halben Schrei, den steckengebliebenen, und fühlte eine lastende Stille. So ruhig war es im Walde, als wartete alles auf den Todesschrei, der nicht kam.

      Zwischen den Brauen Günthers, an der Nasenwurzel, steckte die Spitze der Beilpicke. Sein Angesicht war weiß, violett schimmernd unter den Augen. Noch atmete er. Der Daumen seiner linken, auf der Brust liegenden Hand bewegte sich wie ein kleiner, fleischiger, sterbender Pendel. Mit einem letzten Röcheln verzog er die Oberlippe, man sah seine Zähne und ein Stück weißlichgrauen Zahnfleisches.

      Klitsche warf einen Sack über Günther, die Beilpicke ließ er stecken. Er schleppte ihn weiter über Tannennadeln, über Sandboden, über Zapfen, die leicht knisterten. Da war eine Grube, dahinein fiel Günther, Klitsche zog den Sack fort, um die Beilpicke zu entfernen.

      Rot und steil, mit unendlich feinem Prasseln, schoß das lang gehemmte Blut aus Günthers Stirn hinauf in die Baumkronen, eine rote Schnur, und tropfte von den Tannen.

      Es waren klebrige, zähe Tropfen, sie erstarrten sofort, im Niederfallen noch. Verkrusteten sich wie roter Siegellack. Unendliches, rauschendes Rot umgab Theodor. Im Felde hatte er dieses Rot gesehen und gehört, es schrie, es brüllte wie aus tausend Kehlen, es flackerte, flammte wie tausend Feuersbrünste, rot waren die Bäume, rot war der gelbe Sand, rot die braunen Nadeln auf dem Boden, rot der scharfgezackte Himmel zwischen den Tannen, in grellgelbem Rot spielte der Sonnenschein zwischen den Stämmen. Purpurne, große Räder kreisten in der Luft, purpurne Kugeln rollten auf und nieder, glühende Funken tänzelten zwischendurch, verbanden sich zu sanft gewellten Funkenschlangen, trennten sich. Aus Theodors Innerm kam das rauschende Rot, es erfüllte ihn, schlug aus ihm, aber es machte ihn leicht, und sein Kopf schien zu schweben, als wäre er mit Luft gefüllt. Es war wie ein leichter, roter Jubel, ein Triumph, der ihn hob, ein beschwingendes Rauschen, Tod der schweren Gedanken, Befreiung der verborgen, begraben gewesenen Seele.

      Klitsche glitt aus, fiel nieder, stöhnte einmal. Die Beilpicke stand noch eine Weile in der Luft mit aufwärtsragendem Stiel, als wäre sie lebendig, und wankte seitwärts. Theodor griff sie auf. Er ahmte Klitsche nach, erhob die Beilpicke und ließ sie niedersausen. Klitsches Schädel krachte ein wenig. Weißgrauer und blutiger Brei quoll aus seiner Stirn.

      Irgendwo hackte wieder der unermüdliche Specht, zwitscherte der schüchterne Vogel, stieg der schwere Dunst aus dem Waldboden.

      Mit leichten Schritten ging Theodor durch den Wald, mürbe Zweige krachten unter seinen Füßen, leicht war er wie eine der hundert tänzelnden Mücken.

      Nach München meldete der Bericht, daß Günther Klitsche im Kampfe erschlagen habe und von Theodor Lohse nachher umgebracht worden war. Es wurde von den sechzehn Angehörigen der Stelle S II bezeugt. Die Toten waren gründlich begraben. Ein geschossenes und auseinandergeschnittenes Eichhörnchen lag auf ihrem Grabe und erklärte die Herkunft der Blutspuren.

      Frei war die Bahn Theodor Lohses. Klitsches Erbschaft verwaltete er und baute sie aus. Heiß ging sein Atem, kurz war sein Schlaf und weit das Feld, das er beackerte. Aus vierzig Mittelschulen bildete er eine Garde. Unverläßliche Spione schaffte er ab. Dreimal in der Woche hielt er Vorträge. Eine halbe Stunde bereitete er sich vor, aus Trebitschs Flugschriften und aus dem »Nationalen Beobachter«. Er verwaltete Geld, das er von Major Pauli erhielt. Er schrieb Rechnungen und erteilte keine Vorschüsse, es sei denn an sich selbst.

      Allmählich begriff er die Zusammenhänge, die er früher nur in Artikeln aufgedeckt hatte. Er fuhr nach München, er lernte seine Vorgesetzten kennen, einen General, der nie nach Preußen reiste und in Bayern unter dem Namen Major Seyfarth wohnte. Er hatte das Bedürfnis, Ludendorff zu besuchen, aber er durfte es nicht, direkter Verkehr mit Ludendorff war verboten. Er verlor die Verehrung für diesen und jenen, den er groß genannt und gewähnt hatte. Er sprach mit Nationalsozialisten und achtete sie gering, weil er erfuhr, daß sie nicht in alles eingeweiht waren und daß Geheimnisse auch ihnen nicht offenbar wurden. Theodor lernte horchen und mißtrauen. Man belog ihn.

      Es kränkte ihn. Seinen Fragen gebot man Halt. Es richtete seinen Ehrgeiz auf, es blies ihm neuen Mut ein, Einfluß wollte er, nicht kleine Selbständigkeit, Anfang einer Kette sein, nicht ihr unscheinbares Glied. Aber sein Eifer überwältigte ihn selbst, drang aus ihm, verriet ihn, seinem Fleiß mißtraute man, seine Hitze machte ihn verdächtig. Jeder der Generale, Majore, Hauptleute, Studenten, Journalisten, Politiker klebte an seiner Stelle, es beherrschte sie Angst um ihr tägliches Brot, nichts mehr, nichts weniger. Dazwischen trieben sich kleine Menschen herum, Gäste der Organisationen, der rote Wanderredner Schley, der Pfarrer Block, der Schulmädchen verführte, der Student Biertimpfl, der eine Unterstützungskasse geplündert hatte, der Artist Conti aus Triest, Matrose und Deserteur, der jüdische Spitzel Baum, dessen Spezialität Aufmarschpläne waren, der Elsässer Blum, ein französischer Spion, Klatko aus Oberschlesien, Invalider aus den Abstimmungskämpfen; Marineleutnants und Überseedeutsche, Flüchtlinge aus den besetzten Provinzen, ausgewiesene Regierungsräte, Prostituierte aus Koblenz, Straßenbettler aus den Rheinstädten, ungarische Offiziere, die unkontrollierbare Wünsche geflüchteter Mitglieder aus Budapest brachten, von der Polizei Verfolgte, die falsche Pässe forderten, Redakteure, namenlose, die Geld zur Gründung kleiner Blätter wollten. Jeder wußte etwas, konnte gefährlich, mußte befriedigt werden.

      Es gab Witzige, Dumme, Menschen, von denen Theodor lernen konnte, andere, die von ihm zu lernen suchten. Viele kannten ihn, sein Name war ihnen geläufig, vor Spitzeln mußte er sich in acht nehmen. Er mußte es überhaupt. Er ging durch die Straßen, die Hand am Revolvergriff in der Tasche, er mied dunkle Gegenden, nie trat er aus dem Haus, ohne sich umzusehen, in jedem Passanten witterte er einen Feind, in jedem Gesinnungsgenossen einen persönlichen Gegner. Auf seine Schar junger Leute allein konnte er sich verlassen. Er schuf einen Saal-und Versammlungsschutz, sprengte sozialistische Versammlungen, zog durch die Straßen mit flotten Gesängen. Zu den Vorträgen Trebitschs verteilte er seine Leute im Saal und ließ sie Beifall klatschen, zum Beifall ermuntern. Manchmal schrie ein ahnungsloser Zuhörer eine Beleidigung. Dann schrillte Theodors Pfiff, der Saalschutz strömte um den Zwischenrufer zusammen,