Йозеф Рот

Joseph Roth: Gesamtausgabe - Sämtliche Romane und Erzählungen und Ausgewählte Journalistische Werke


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müssen; andere betranken sich; heulten wahnsinnigen Jubel in den Straßen, letzte Jauchzer vor dem Untergang; Diebe legten ihre schleichende Sorgfalt ab und paradierten mit der Beute; Räuber hatten ihre Winkel verlassen und verrichteten ihr Werk im Sonnenschein; brach einer nieder auf hartem Pflaster, raubte ihm der andere den Rock im Weitergehen; Krankheit wälzte sich durch die Häuser der Armen; über staubige Höfe; lag in den lichtarmen Stuben; drang durch die Haut; Geld rann durch die Finger der Satten; ihrer war die Macht; Furcht vor den Hungrigen nährte ihre Grausamkeit; Fruchtbarkeit ihrer Güter blähte ihren Stolz; sie tranken Champagner in lichterfüllten Palästen; sie ratterten in Automobilen vom Geschäft zur Freude, von der Freude zum Geschäft; Fußgänger starben unter den Rädern; rasende Chauffeure flitzten weiter; die Totengräber streikten; die Metallarbeiter streikten; vor den Nahrungsmitteln hinter glänzenden Spiegelscheiben reckten sich ausgedörrte Hälse, flackerten Augen, aus den Höhlen getretene; kraftlose Fäuste ballten sich in zerrissenen Taschen.

      In den Parlamenten redeten oberflächliche Menschen. Minister gaben sich ihren Beamten preis und waren ihre Gefangene. Staatsanwälte exerzierten in Sturmtrupps. Richter sprengten Versammlungen. Nationale Wanderredner hausierten mit tönenden Phrasen. Listige Juden zahlten Geld. Arme Juden erlitten Prügel. Geistliche predigten Mord. Priester schwangen Knüppel. Katholiken waren verdächtig. Parteien verloren Anhänger. Fremde Sprachen waren verhaßt.

      Fremde Menschen wurden bespien. Treue Hunde wurden geschlachtet. Droschkengäule gegessen. Beamte saßen hinter Schaltern, hinter Gittern, unerreichbar, geschützt vor der Wut, lächelten und befahlen. Lehrer prügelten aus Hunger und Wut. Zeitungen erlogen Greuel der Feinde. Offiziere wetzten Säbel. Gymnasiasten schossen. Studenten schossen. Polizisten schossen. Die kleinen Knaben schossen. Es war eine schießende Nation.

      Und Benjamin lebte unter verzerrten Gesichtern, verrenkten Gliedmaßen, gekrümmten Rücken, geprügelten Rücken, geballten Fäusten, rauchenden Pistolen, geschändeten Müttern, aussätzigen Bettlern, betrunkenen Patrioten, schäumenden Bierkrügen, klirrenden Sporen, zerschossenen Arbeitern, verbluteten Leichen, offenen Gräbern, verschütteten Mordgruben, erbrochenen Kassen, eisernen Knüppeln, scheppernden Schwertern, klingenden Orden, paradierenden Generalen, blitzenden Helmen.

      Oh, wie liebte sie Benjamin Lenz! Wie durfte er sie hassen und ihren Haß nähren und großzüchten! Er sah den grausamen Lebendigen und roch den Moder voraus. Benjamin wartet, sie werden ihm anheimfallen. Sie werden einander zerfleischen, er wird es erleben. Wie liebte Benjamin Theodor, den gehaßten Europäer, Theodor: den feigen und grausamen, plumpen und tückischen, ehrgeizigen und unzulänglichen, geldgierigen und leichtsinnigen, den Klassenmenschen, den Gottlosen, Hochmütigen und Sklavischen, Getretenen, strebenden Theodor Lohse! Es war der europäische junge Mann: national und selbstsüchtig, ohne Glauben, ohne Treue, blutdürstig und beschränkt. Es war das junge Europa.

      Am 20. Oktober, um elf Uhr nachts, wurde Marinelli befreit. Er floh in bereitgehaltenem Auto nach Berlin, er fuhr nach Potsdam, der Chauffeur hatte Befehl, ihn zu Theodor Lohse in die Kaserne zu bringen. Theodor erwartete ihn. Marinelli wurde am Morgen in Uniform gesteckt, er verblieb in der Kaserne. Am 21. Oktober kam Benjamin Lenz und begrüßte Marinelli: dann nahm er Theodor mit zum Russen Rastschuk, der ein Bankbeamter war.

      Theodor sprach gern mit Rastschuk. Likör tranken sie. Rastschuk war so groß, so stark, daß er die kleine dunkle Likörstube erfüllte. Er sprach sehr leise, und man hörte ihn dennoch. Wenn er sein Auge auf den Kellner warf, kehrte der um, als wäre er gerufen worden. Ganz großartig war Rastschuk.

      Benjamin Lenz erzählte ihm von Marinellis Befreiung und Flucht und Aufenthalt in der Kaserne. Es war Theodor sehr peinlich, und es wurde ihm heiß, weil Benjamin seine Erzählung immer unterbrach und Theodor zum Zeugen für die Richtigkeit seiner Worte anrief. »Nicht, Herr Lohse?« fragte Benjamin, und Theodor schwieg.

      Was wußte er überhaupt von Rastschuk? Daß er ein Weißgardist gewesen und für den Sturz der Bolschewiki arbeitete. So sagte Lenz. So sagte Rastschuk selbst. Aber Theodor glaubt es nicht. Gleichgültig war alles, zu spät kamen die Bedenken. Theodor ging mit Benjamin Lenz. Das ist sein Bundesgenosse.

      Benjamin hat einen Plan entworfen. Theodor Lohse erfährt von den anderen die Vorbereitungen für den 2. November. Dann berichtet er der Organisation. Aber er stellt Bedingungen: Was erhält Theodor Lohse für seinen wertvollen Bericht? Er muß nach dem gelungenen 2. November eine führende, weithin sichtbare Stellung einnehmen. Er ist heute eine Gefahr, Theodor Lohse. Zwei Wochen trennen ihn vom 2. November.

      Um die anderen zutraulich zu machen, liefert er ihnen Geheimbefehle aus.

      Es kommen Befehle an Theodor Lohse. Briefe von Münchner Freunden, in denen gleichgültige Sätze stehen: Alfred holt am Zweiten Paul ab. Aber dieser Satz bedeutet: Die Berliner Polizei holt die Reichswehr zu Hilfe. Oder: Unser alter Freund hat sich mit Viktoria verlobt. Und das heißt: Der Reichswehrminister ist mit den Organisationen einverstanden. Und: Martin fährt für eine Woche zu den Kindern. Also fuhr Marinelli zum Bismarck-Bund, mit Grüßen von Theodor und dem Befehl, die jungen Leute für den 2. November in der Universität bereitzuhalten.

      Diese Briefe bekam Lenz. Er trug sie zu Rastschuk.

      Dafür erfährt Theodor, daß sächsische Ordnerwehren nach Berlin kommen. Daß in Potsdam nichts geplant werde. Daß den kommunistischen Arbeitern in Berlin hundertzweiundfünfzig Polizisten ergeben sind.

      Das berichtet Theodor nach München an seinen Freund Seyfarth. Er schreibt:

      »Ich könnte Dir viele Neuigkeiten erzählen, wenn wir uns sähen. Ich habe keine Geduld zu schreiben. Ich bin beschäftigt.«

      Also fährt Student Kamm nach Berlin.

      »Ich schicke Dir den jungen Kamm«, schreibt Seyfarth. »Zeig ihm Berlin, er ist zum erstenmal dort.«

      Theodor, Kamm und Benjamin Lenz gingen durch Berlin. Kamm hatte Geld, und sie gaben es aus. Sie tranken im Tanzpalast und in der Kaiser-Wilhelm-Diele, und Theodor traf dort seine alten Freunde, und es gab ein großes Fest.

      Man sperrte die Cafés, die Dielen, die Tanzpaläste, sie ließen sich von flüsternden Männern an den Straßenecken in Spielklubs fahren, spät war es, in dem raucherfüllten Zimmer merkte man nichts, hörte man nur das klatschende Geräusch der Karten, das kurze Gelächter der Menschen, das Rascheln der Banknoten, das Klirren eines Tellers.

      Theodor, Kamm und Benjamin saßen in Fauteuils, abseits vom Spieltisch. Jetzt hatte Kamm kein Geld mehr. Er besorgte sich Reisegeld bei Benjamin.

      Er bekam nur so viel, daß er gerade noch die dritte Klasse des Schnellzugs benützen konnte.

      »Man soll bescheiden sein!« sagte Lenz.

      Dann besprachen sie Einzelheiten.

      Lenz verlangte nach dem 2. November »großzügige Reklame« für Theodor Lohse. Alle nationalen Blätter sollten ihn nennen. Sie müßten ihm das Verdienst zuschanzen, die Stadt gerettet zu haben, das Vaterland. Andererseits hätte Theodor noch Mittel, sich sehr viel anderswo zu holen.

      »Man kann sie ja vorher umbringen – beide!« sagte Kamm und putzte seine Nägel mit einem Stückchen Rehleder.

      »Man sollte es versuchen!« spottete Lenz.

      Er nahm den Aufmarschplan der sächsischen Ordner aus der Tasche. Lenz und Theodor geleiteten Kamm zur Bahn.

      Kamm stand am Fenster und winkte.

      »Gruß an Seyfarth!«

      »Vergessen Sie Paul nicht!« sagte Kamm.

      Dann schied Lenz. Er zwängte sich durch die eilenden Scharen der Büromädchen. Er stieß an geschminkte Frauen, die verloren dastanden.

      Es war, als hätte die Nacht sie vergessen.

      Und Benjamin Lenz ging zu Rastschuk. Man änderte den Aufmarschplan in Eile. Lenz hatte Kamm das Original gegeben.

      »Man muß ehrlich arbeiten!«