Йозеф Рот

Joseph Roth: Gesamtausgabe - Sämtliche Romane und Erzählungen und Ausgewählte Journalistische Werke


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sagt er dann mit Bedeutung zu Santschin. »Jeden Tag drei Gläschen Wein, verstehen Sie mich?«

      Der Doktor schüttet alle fünf Gläser halb voll und reicht sie uns der Reihe nach. Dabei sehe ich, daß der Doktor alt ist. Seine knochigen Hände haben viele blaue Äderchen und zittern.

      »Auf Ihre Gesundheit!« sagt der Doktor zu Santschin, und wir stoßen alle an. Es ist wie ein fröhlicher Leichenschmaus.

      Ich reiche dem alten Doktor Hut und Stock, und Stasia und ich begleiten ihn auf den Korridor.

      »Mehr als zwei Flaschen überlebt er nicht«, sagte der Doktor zu uns.

      »Na, man braucht es ihm ja nicht zu sagen! Ein Testament braucht er nicht aufzusetzen.«

      Der Doktor stieß seinen schweren Stock auf die Steinfliesen und ging mit klirrender Sporenmusik davon. Er wollte kein Geld nehmen.

      An diesem Abend begleitete ich Stasia ins Varieté.

      Es war immer noch dasselbe Programm. Nur hatte es ein Loch, oder schien es mir so, weil ich wußte, daß Santschin fehlte? Sein Esel trottete auf die Bühne mit roten Läschchen auf den langen Ohren, die er senkte und hob wie Federstiele. Er suchte etwas auf dem Boden, ihm fehlte Santschin, der heitere Santschin, der auf den Brettern kugelnde Körper Santschins, seine heisere, krächzende Stimme, seine glucksenden Juchzer, sein lautes Clowngeplärre. Der Esel fühlte sich unbehaglich, er hob die Vorderbeine, tanzte, auf den Hinterbeinen stehend, einen Marsch aus Blech und Messing und trottete ab.

      Alexanderl Böhlaug traf ich; er saß in der ersten Reihe und aß ein Kaviarbrötchen, hielt es mit Daumen und Mittelfinger und spreizte die Bubenhand. Als die Tanznummer kam und Stasia auftrat, verzog er einen Mundwinkel, als schmerze ihn etwas. Aber es geschah nur, weil er ein Monokel einklemmte.

      Dann ging ich mit Stasia nach Hause. Wir wählten stille Gäßchen, wir sahen durch beleuchtete Fenster in Stuben, lauter arme Stuben, in denen kleine Judenkinder Rettich und Brot aßen und ihre Gesichter in große Kürbisse gruben.

      »Haben Sie bemerkt, wie traurig August war?«

      »Wer ist August?«

      »Santschins Esel, er arbeitet schon sechs Jahre mit Santschin.«

      »Nun wird das Hotel Savoy um einen ärmer«, sage ich – nur, weil ich mich vor dem Schweigen fürchte.

      Stasia sprach nicht – sie erwartete, daß ich etwas anderes sagen würde, und gerade, als wir auf den Marktplatz kommen sollen – wir stehen in der letzten kleinen Gasse –, zögert Stasia ein wenig und wäre gerne noch geblieben.

      Wir sprachen kein Wort mehr, bis wir mit Ignatz im Fahrstuhl sitzen. Da schämen wir uns vor seinem Kontrollblick und reden Gleichgültiges.

      In dieser Nacht trug Stasia das Bettzeug der Frau Santschin und das Kind in ihr Zimmer und bat mich, bei Santschin zu bleiben. Santschin freute sich. Er dankte Stasia, nahm ihre Hand und meine und preßte unsere Hände.

      Es war eine furchtbare Nacht.

      Ich entsann mich der Nächte in freien, offenen Schneefeldern, der Wachtpostennächte, der weißen podolischen Schneenächte, in denen ich fror, und jener von Raketen durchblitzten, da der dunkle Himmel von roten, glühenden Wunden zerfurcht war. Aber keine einzige Nacht meines Lebens, auch jene nicht, in der ich selbst zwischen Leben und Tod geschwebt, war so furchtbar.

      Santschins Fieber steigt plötzlich und eilig. Stasia bringt in Essig getauchte Tücher, wir legen sie um Santschins Kopf – es hilft nicht.

      Santschin phantasiert. Er gibt eine Gratisvorstellung. Er ruft nach August, seinem Esel. Mit zärtlicher Gebärde ruft er nach seinem Esel. Er hält die Hand vor sich, als böte er dem Tier ein Stück Zucker an, wie er es vor jeder Vorstellung tut. Er springt auf und schreit. Er klatscht in die Hände wie im Varieté, um Beifall herauszufordern. Er streckt den Kopf vor, wackelt mit den Ohren, steift sie wie ein Hund und lauscht auf den Applaus.

      »Klatschen Sie«, sagt Stasia, und wir klatschen. Santschin verneigt sich. Am Morgen lag Santschin in kaltem Schweiß. Die großen Tropfen wuchsen wie gläserne Beulen aus seiner Stirn. Es roch nach Essig, Urin, fauler Luft.

      Frau Santschin plärrte leise. Sie drückte den Kopf gegen den Türpfosten. Wir ließen sie weinen.

      Als ich mit Stasia hinausging, sagte uns Ignatz guten Morgen. Er stand im Korridor, so selbstverständlich, als wäre hier sein ständiger Posten und nirgends sonst in der Welt.

      »Santschin wird wohl sterben?« fragt Ignatz.

      In diesem Augenblick ist es mir, als hätte der Tod die Gestalt des alten Liftknaben angenommen und stünde nun hier und warte auf eine Seele.

      Santschin wurde um drei Uhr nachmittags begraben, auf einem entlegenen Teil des orientalischen Friedhofs.

      Wer im Winter etwa sein Grab wird besuchen wollen, wird sich mit Spaten und Schaufel mühsam einen Weg bahnen müssen. Alle Armen, die auf Gemeindekosten sterben, werden so weit draußen bestattet, und erst wenn drei Generationen gestorben sind, zeigt jener entlegene Teil des Gottesackers menschliche Wege.

      Aber dann wird das Grab Santschins nicht mehr zu finden sein.

      Nicht einmal Abel Glanz, der arme Souffleur, wird so weit draußen liegen.

      Das Grab Santschins ist kalt und lehmig – ich sah hinein, als er begraben wurde –, und sein Gebein ist schutzlos dem Getier der Erde preisgegeben.

      Santschin lag drei Tage aufbewahrt im Varieté, weil das Hotel Savoy ja kein Hotel für Tote ist, sondern für Springlebendige. Er lag hinter der Bühne in einer Garderobezelle, und seine Frau saß bei ihm, und ein armer Küster betete. Der Direktor des Varietés hatte die Kerzen beigesteuert. Die Tänzerinnen mußten an dem toten Santschin vorbei, wenn sie auf die Bühne gingen, die Blechmusik machte ihren Lärm wie gewöhnlich, auch der Esel August kam, aber Santschin rührte sich nicht.

      Von den Gästen wußte niemand, daß hinter dieser Bühne ein Toter lag. Die Polizei hatte es erst verbieten wollen, aber ein Polizeioffizier, der immer Freiplätze bekam – seine Verwandtschaft füllte ein Viertel des Saales –, brachte die Bewilligung.

      Vom Varieté aus ging der Leichenzug, der Direktor bis an den Rand der Stadt, wo die Schlachthöfe stehen – in dieser Stadt wurden die Toten den gleichen Weg geführt wie das Vieh. Die Kollegen, Stasia und ich und die Frau Santschins folgten bis zum Grab.

      Als wir das Tor des Friedhofs erreicht hatten, stand Xaver Zlotogor da, der Magnetiseur, und zankte mit dem Friedhofsverwalter. Zlotogor hatte den Esel Santschins unbemerkt an das offene Grab geführt und dort warten lassen.

      »So kann er nicht begraben werden!« schrie der Verwalter.

      »So wird er begraben werden!« sagte Zlotogor.

      Es gab einen kleinen Aufenthalt, der Pope sollte entscheiden, und da ihm Xaver Zlotogor etwas zuflüsterte, entschied er, daß das Tier bleiben könne.

      Der Esel stand mit schwarzen Trauerläschchen auf den gesenkten Ohren und rührte sich nicht. Hart am Grabesrand stand er und rührte sich nicht, und jeder ging um ihn herum und wagte nicht, das Tier wegzuschieben.

      Mit Xaver Zlotogor und dem Esel ging ich zurück, auf den breiten, kiesbestreuten Wegen des Friedhofs, an vornehmen Grabmälern vorbei. Hier liegen die Toten aller Bekenntnisse nicht weit voneinander, nur der jüdische Friedhof ist durch zwei Zäune getrennt. Bettelnde Juden stehen am Zaun und in den Alleen den ganzen Tag wie menschliche Zypressen. Sie leben von der Gnade reicher Erben und schütten über jeden Geber ihre Segenssprüche.

      Ich mußte Xaver Zlotogor meine Anerkennung ausdrücken, er hatte tapfer für den Esel gekämpft. Ich kannte den Magnetiseur noch gar nicht, er trat nicht jeden Tag, sondern nur am Sonntag auf oder bei besonderen Anlässen, und sehr oft reiste er »selbständig« durch kleine und größere Städte und gab Vorstellungen.

      Er