Йозеф Рот

Joseph Roth: Gesamtausgabe - Sämtliche Romane und Erzählungen und Ausgewählte Journalistische Werke


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ich! Das kann kein Postwagen sein! Was hätte die Post mit roten Jotazigaretten zu tun? Was geht das die Post an, was die Menschen rauchen?

      Tausend wunderbare Dinge entdeckt Andreas. An der Spitze einer Litfaßsäule befindet sich eine Windfahne. Sie vollführt kleine Drehungen, als könnte sie sich nicht für eine bestimmte Richtung entscheiden. Wenn man nahe vor ihr steht und sie ansieht, hört man auch ihr leises Knattern mitten durch den Lärm der Straße. Was macht eine Windfahne auf einer Litfaßsäule? Zeichen des allgemeinen Wahnsinns? Was ist es denn sonst? Ist es die Aufgabe einer Litfaßsäule, die Richtung des Windes anzuzeigen? Oder Vorträge, Theatervorstellungen und Konzerte?

      Andreas schickte sein Auge verzweifelt zum Himmel empor, weil er dem Wahnsinn der Erde entrinnen wollte. Denn der Himmel ist von einer unsterblichen klaren Bläue, und seine Farbe ist rein wie Gottes Weisheit, und ewige Wolken ziehen über sie hin. Heute aber verbanden sich Wolkenfetzen zu verzerrten Gesichtern, Fratzen wehten über den Himmel, und Gott schnitt Grimassen.

      Da die Welt sich also verändert hatte, beschloß Andreas, sich mehr um sie zu kümmern und nicht wieder ins Gefängnis zurückzukehren.

      Sein Blick fiel auf seine linke Brust. Er erinnerte sich, daß er kein Kreuz mehr trug. Und als hätte er das Bedürfnis, statt des Ordens, den er sich in seinem alten Leben erworben, einen neuen zu gewinnen, der seiner Wiedergeburt entsprochen hätte, wälzte er in seinem Gehirn das Wort »Heide«, ein trotziges Wort, das plötzlich eine neue Bedeutung erhielt und das er sich, als wäre es ein Orden, selbst verlieh.

      Andreas Pum erklärte sich als einen Heiden. Schon zählte er sich mit Übermut der Gilde der Verbrecher zu. Und sein Schritt wurde scheu, und sein Blick wurde lauernd, wenn ein Polizist vorbeiging. Als wäre er ein steckbrieflich verfolgter Mörder, so schlich Andreas durch die Seitenstraßen der Stadt.

      So kam er, ohne es gewollt zu haben, vor seine alte Wohnung. Es war, als hätte er sie erst gestern verlassen. Er klopfte, wie er es immer getan hatte und wie es wegen des schwer schlafenden Willi nötig war, mit dem Stock dreimal gegen die Tür. Er hörte Willis verschlafenes Gähnen und das Knacken seiner starken Knochen, das immer vernehmbar wurde, wenn Willi die Arme dehnte.

      »Da bist du ja wieder!« sagte Willi. »Wo ist dein Konzertflügel?«

      Andreas faßte sehr viel Mut, als er Willi sah. Er hatte das Vertrauen, das man für einen Bruder empfindet. In traulichem Halbdunkel lag das Zimmer. Ein heimischer, liebgewordener Duft saurer Muffigkeit kam von den Wänden und von dem schmutzigen Lager. Und derselbe Rausch, der manche empfindsamen Menschen ergreift, wenn sie nach langer Weltreise die Grenze des Landes überschreiten, in dem sie geboren sind – derselbe Heimatrausch erfüllte Andreas Pum.

      Willi deckte mit einem Pappendeckel den Tisch. Hierauf brachte er die Wurst, die er immer noch von seinem alten Lieferanten in der Seitenstraße bezog. Dann goß er Schnaps in das Teeglas.

      »Gestern haben wir Geburtstag gefeiert von der Klara!« erläuterte er. Und er saß mit breit aufgestemmten Ellenbogen vor Andreas Pum und hörte diese seltsame, diese merkwürdige Geschichte, aus der er schloß, daß sie nur solchen Idioten wie diesem Krüppel zustoßen konnte.

      »Du bleibst hier!« entschied Willi mit der Sicherheit eines Mannes, der Macht besitzt und schnelle Entschlüsse zu fassen weiß. »Wollen sehen, ob sie dich hier finden!« sagte Willi und war wirklich neugierig. Hierauf legte er sich wieder schlafen.

      Auch Klara hörte mit großer Verwunderung Andreas Pums Geschichte. »So hast du Weib und Kind und alles auf einmal verloren!« sagte sie. Denn sie hatte ein weiches Herz.

      »Wie gewonnen, so zerronnen«, sagte Willi. Dann sang er die erste Strophe eines Gassenhauers.

      »Fang dir nicht mit den dummen Gerichten an!« sagte die weichherzige, aber immerhin etwas furchtsame Klara. »Geh hin und sitz deine sechs Wochen ab.«

      Aber Willi, der von Nachgiebigkeit nichts hören wollte, stieß sie in den Rücken, so daß sie über den Tisch fiel.

      In dieser Nacht schlief Andreas den lächelnden, tiefen, reinen Schlaf eines Kindes.

      Aber am Morgen kamen zwei Kriminalbeamte. Sie hatten ihn bei seiner Frau nicht angetroffen und von ihr die alte Wohnung erfahren. Sie holten Andreas ab. Sie fuhren mit ihm zur Vorortbahn und ein gut Stück weiter außerhalb der Stadt.

      Die Strafanstalt lag in der Nähe weiter Felder, ein breiter Bau, mit vielen zackigen Türmchen aus braunroten Ziegelsteinen.

      So lag das Gefängnis, das Land beherrschend, heilig wie eine Kirche und finster wie ein gemauertes Gesetz.

      Das letzte, das Andreas von der Welt sah, war eine junge Katze. Sie mochte einem Gefängniswärter gehören. Sie lief, ein helles Glöckchen an einem roten Band um den Hals, an dem Zaun entlang, der das Haus der Gerechtigkeit von einem Feldweg trennte. Sie erinnerte an ein kleines Mädchen.

      An seine Zelle gewöhnte sich Andreas sehr schnell; an ihre saure Feuchtigkeit, ihre durchdringende Kälte und an das schraffierte Grau, das ihr Tageslicht war. Ja, er lernte die Phasen der Dunkelheit unterscheiden, welche den Morgen, den Abend, die Nacht und die nebelhaften Stunden der Dämmerung kennzeichneten. Er wuchs in die Finsternis der Nächte hinein, sein Auge durchbohrte ihre Undurchdringlichkeit, daß sie durchsichtig wurde wie dunkelgefärbtes Glas am Mittag. Er entlockte den wenigen Gegenständen, unter denen er lebte, ihr eigenes Licht, so daß er sie in der Nacht betrachten konnte und sie ihm selbst ihre Konturen darboten. Er lernte die Stimme der Finsternis kennen und den Gesang der lautlosen Dinge, deren Stummheit zu klingen beginnt, wenn die polternden Tage vergehn. Das Geräusch einer kletternden Mauerassel konnte er vernehmen, sobald sie die glatte Wandfläche verließ und eine Stelle erreichte, die den Mörtel verloren hatte und in ihrer rissigen Ziegelnacktheit lag. Die kümmerlichen Äußerungen der großen Stadt, die bis zum Gefängnis drangen, erkannte er, jede in ihrer Art und einer jeden Herkunft und Abstammung. An den feinsten Unterschieden ihrer Laute erkannte er Wesen und Gestalt und Ausmaß der Dinge. Er wußte, ob ein vornehmer Privatwagen draußen vorbeisauste oder nur eine gutgebaute Droschke; ob ein Pferd die zarten Gelenke adeliger Zucht besaß oder die breiten Hufe des billigen Nützlichkeitsgeschlechts; er kannte den Unterschied zwischen dem flotten Trab des Rosses, das ein leichtes Wägelchen auf stummen Gummirädern führte, und jenem, das auf seinem Rücken den Herrenreiter trug. Er erkannte den schleppenden Schritt des alten Mannes und den schlendernden des jungen Naturliebhabers; das flotte Getrippel des hurtigen Mädchens und den zielbewußten Tritt der geschäftigen Mutter. Er konnte mit dem Ohr einen Spaziergänger von einem Wanderer unterscheiden; den Zartgebauten von dem Vierschrötigen; den Kräftigen von dem Schwachen. Er bekam die zauberhaften Gaben eines Blinden. Sein Ohr wurde sehend.

      An den ersten Tagen seiner Haft versuchte er noch, durch das hohe Gitter hinauszusehen.

      Er schob die Holzbank zum Fenster und ließ nicht nach, bis er mit seinen beiden Händen den unteren Rand der Mauerbuchtung gefaßt hatte, in der das Gitter saß. Ach – er war nur einbeinig, die stumpfe Krücke fand an der glatten Mauer nicht einmal den kümmerlichen Halt, den sein gesunder Fuß noch mühevoll ertastete, und er hing sekundenlang mit seinem ganzen Gewicht an den krampfdurchzuckten letzten Gliedern seiner Finger. So schwebte sein Körper in der Luft und seine Seele zwischen dem Verlangen, einen kargen Ausschnitt der Welt zu sehen, und der Furcht, hinunterzufallen und den Tod zu finden. Nie hatte er größere Gefahr gekannt. Denn niemals – auch im Felde nicht – hatte er so die Kostbarkeit des Lebens empfunden, dieses kleinen Lebensrestes, den ihm die Zelle gewährte. Ihr entriß er mit List und mit tausend Mühen den kurzen Ausblick in die Welt durch das schmutzige Glas hinter den engen Quadraten und kehrte dennoch erfrischt und bereichert in das ewige Dunkelgrau hinunter, als hätte er alle Schönheiten der Erde genossen. Diese kleinen Ausflüge, die sein Auge unternahm, versöhnten ihn immer wieder mit der Unerbittlichkeit seines Kerkers; bewiesen sie ihm doch, daß nicht einmal die Zelle, die ihn abschloß, außerhalb der Welt war und daß auch er noch dem Leben gehörte. Er war ein Krüppel und nicht unbeschränkter Herr über die Erde wie ein zweibeiniger Mensch. Er konnte nicht lautlos gehen, nicht hüpfen, nicht laufen.