Йозеф Рот

Joseph Roth: Gesamtausgabe - Sämtliche Romane und Erzählungen und Ausgewählte Journalistische Werke


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von Willis Waren, er pries nichts an, er »interessierte« nicht, wie Willi sagte, wenn er »kontrollieren« kam. Nur der alten Freundschaft hatte er es zu verdanken, daß er auf seinem Posten bleiben durfte.

      Das schmale Fenster der Toilette ging in einen Hof, in dessen Mitte ein Kastanienbaum stand und der Andreas an die Höfe erinnerte, in denen er musiziert hatte. Jetzt wurden die Knospen immer größer, sie wuchsen zusehends, wurden fett und knallig, die Vögel hingen in den Zweigen, paarten sich und stritten, Andreas streute ihnen Krumen und sah in den Frühling hinaus, der verborgen, kümmerlich und dennoch reich, so viel Pracht entfaltete, als es die Bedingungen des gepflasterten Hofes zuließen und die Sonnenstrahlen, die nur am Nachmittag hierherkamen. Wenn ein Gast eintrat, mußte Andreas aus Gründen des Anstandes das Fenster schließen, denn gegenüber waren Küchenfenster und weibliches Hauspersonal, das neugierig hinüberzusehen schien.

      Die Stelle am Knie schmerzte, die Polsterung der Krücke hätte längst erneuert werden müssen. Auch der Rücken tat aus unerklärlichen Gründen weh, die Feuchtigkeit verstärkte alte rheumatische Schmerzen, Gichtknoten bildeten sich an den Fingern, und ein drückendes Weh lastete auf der Brust, das Herz schien sekundenlang stillzustehen, und Andreas glaubte, er wäre bereits tot. Dann erwachte er, erschrak, daß er noch lebte, und glaubte bald wieder, er wäre nicht mehr auf Erden. Erst ein neuer Schmerz bewies ihm, daß er noch ein Lebender war. Er wußte nämlich, daß Verstorbene keine Schmerzen kannten, weil sie keinen Leib hatten, sondern nur aus Seelenstoff bestanden. Über derlei Fragen grübelte er lange, einsame Stunden, er suchte eine Erklärung für die sichtliche Ungerechtigkeit Gottes und seine Irrtümer, er dachte über die Möglichkeit einer Wiedergeburt nach und begann, verschiedene Wünsche zu äußern, als stünde er vor dem Ewigen und der Wahl, in welcher Gestalt er wieder ins Leben zurückkehren wolle. Er entschied sich für die Existenz eines Revolutionärs, der kühne Reden führt und mit Mord und Brand das Land überzieht, um die verletzte Gerechtigkeit zu sühnen. Von derlei Dingen las er in den Zeitungen, die er vom Café bekam. Sie waren meist schon zwei Tage alt, und er erfuhr alle Neuigkeiten, die nicht mehr wahr sein konnten, ehe er die Zeitungen in Rechtecke zerschnitt und sie in gleichmäßigen Päckchen an die Nägel hing. Denn Willi hatte ihm eingeschärft, das teure Klosettpapier zu sparen.

      Spät in der Nacht kehrte er heim. Jetzt bewohnte er allein das alte Zimmer Willis, aber er blieb nicht gerne ohne Gesellschaft zu Hause. So bat er um die Erlaubnis, seinen Papagei aus dem Café mitnehmen zu dürfen. Er trug den Vogel im Käfig, über den er warme Decken stülpte, wenn es regnete und die Nächte kühl waren. Der Papagei schlief unterwegs und erwachte erst im Zimmer, wenn er Licht durch die dicken Hüllen verspürte. Dann sprach er ein paar Worte, wie ein Mensch im Schlaf oder im Halbschlummer zu sprechen pflegt, und Andreas besänftigte ihn mit guter, liebevoller Rede.

      Einmal sah Andreas Einbrecher in der Nacht, aber er sagte nichts dem Polizisten, den er an der nächsten Ecke traf. Die Einbrecher arbeiteten an der Tür eines Ladens. Andreas freute sich im stillen. Es schien ihm, daß die Einbrecher den geheimen Zweck haben, die Gerechtigkeit in der Welt auf eine gewaltsame Weise wiederherzustellen. Las er in der Zeitung von Mord und Einbruch und Diebstahl, so freute er sich. Die Verbrecher, die »Heiden«, waren seine stillen Freunde geworden. Sie wußten es nicht. Er aber war ihr Freund, ihr Gönner. Manchmal träumte er, ein verfolgter Verbrecher flüchte sich zu ihm in die Toilette. Dann half er ihm freudig durchs Fenster in den Hof und in die Freiheit.

      Indessen wurden die Apriltage warm, regenschwanger und wie süße Versprechungen. In den Nächten fühlte Andreas einen fernen Duft mit dem Winde daherkommen, seine Glieder wurden mehr müde als sonst. Er verlor das Interesse für viele Dinge. Sogar die Wiederaufnahme seines Verfahrens bekümmerte ihn nicht mehr. Er war alt, er war älter, als er selbst wußte. Schon ragte er hinüber ins andere Leben, während er noch die Pflastersteine dieser Erde trat. Seine Seele träumte sich ins Jenseits, wo sie heimisch war. Fremd kehrte sie in den Tag zurück.

      Seine Schmerzen verstärkten sich, sein Husten wurde noch trockener, die Anfälle dauerten länger. Er vergaß heute, was gestern geschehen war. Er sprach mit sich selbst. Er vergaß manchmal den Papagei und schrak auf, wenn dessen Stimme unvermutet krächzte. Der Tod warf einen großen blauen Schatten über Andreas.

      Da kam eines Tages eine gerichtliche Vorladung. Sie war genau wie die erste mit einem würdigen Amtssiegel versehen, ein weißer Adler erhob seine Schwingen auf blutrotem Grunde, und obwohl die Adresse von flüchtiger Hand geschrieben war und der Gerichte vielbeschäftigte Eile bewies, strömte das Schriftstück doch jene Würde aus, welche den portofreien und amtlichen Briefen innewohnt. Andreas las. Er wurde noch einmal für zehn Uhr vormittags bestellt.

      Er erinnerte sich wieder an seine Leiden, er arbeitete an einer Rede, er bereitete sich zu einer großen Anklage vor. »Hoher Gerichtshof«, wollte er sagen. »Ich bin ein Opfer dieser Verhältnisse, die Sie selbst geschaffen haben. Verurteilen Sie mich. Ich gestehe, daß ich ein Rebell bin. Ich bin alt, ich habe nicht lange mehr zu leben. Ich aber würde mich auch nicht fürchten, selbst, wenn ich jung wäre.« Noch viele tausend schöne und mutige Worte fielen Andreas ein. Er saß auf seinem Stuhl neben der blauen Personenwaage und flüsterte vor sich hin. Ein Herr verlangte Seife, und er hörte es nicht. Ignatz flatterte auf seine Schulter und bat um Zucker. Andreas fühlte ihn nicht.

      Von einer Turmuhr schlug die zehnte Vormittagsstunde. Eine zweite Uhr wiederholte die zehn Schläge. Mit langgezogenen, wehklagenden Tönen fiel eine dritte ein. Viele Türme, alle Türme der großen Stadt warfen Glockenschläge hinunter auf die kupfernen Dächer.

      Andreas stand vor dem Richter. Die Vorladung hatte er soeben dem Gerichtsdiener übergeben. Der trug sie mit weihevoller Gebärde zum Schreiber, er schritt auf den Zehenspitzen, um die andächtige Stille des Gerichtssaals nicht durch den schweren Tritt seiner offenbar genagelten Stiefel zu unterbrechen, und dennoch war in seinem Gang etwas Gewichtiges, wie in dem Parademarsch eines lautlosen Gespenstes. Der Schreiber war uralt und hatte eine schiefe Schulter. Auch kurzsichtig schien er zu sein. Denn seine Nase berührte fast den Tisch, auf dem er schrieb, und die Spitze seines Federhalters ragte dünn und drohend, wie ein geschliffener Speer, über den Rand seines Kopfes. Noch hatte die Verhandlung nicht begonnen, und dennoch lief die Feder mit schnellen, raschelnden Lauten über das Papier, als gälte es, die Aussagen der Jahrhunderte abzuschreiben.

      Der Richter saß in der Mitte zwischen zwei blonden, wohlgenährten Männern mit blanken Glatzen. Andreas hätte gerne gewußt, was die beiden Männer dachten. Sie sahen aus wie Zwillinge und unterschieden sich lediglich dadurch, daß der eine die Enden seines Schnurrbarts emporgezwirbelt, der andere sie nach beiden Seiten, links und rechts, waagrecht ausgezogen hatte. Der Richter war bartlos. Er hatte ein unbewegliches Antlitz voll steinerner Majestät wie ein toter Kaiser. Seine Gesichtsfarbe war grau wie verwitterter Sandstein. Seine großen grauen Augen waren alt wie die Welt und schienen durch die Wände in ferne Jahrtausende zu blicken. Nicht bogenförmig gekrümmt, wie bei anderen Menschen, sondern waagrecht, wie zwei lange, schwarze Kohlenstriche standen die Brauen am unteren Rande der scharfen, kantigen Stirn. Die dünnen Lippen waren fest geschlossen, breit und blutigrot. So hätte dieses Angesicht wohl den Eindruck einer herzlosen Unerbittlichkeit hervorgerufen, wenn in der Mitte des männlichen starken Kinns nicht eine versöhnende, fast kindliche Mulde gewesen wäre. Der Richter trug einen schwarzen Talar mit einem kleinen, noch schwärzeren Samtkragen.

      Auf dem erhöhten Tisch, zwischen zwei weißen und dicken, aber nicht gleich großen Kerzen stand ein Kreuz, gelb und wuchtig, wie aus Würfeln aufgebaut. Es schien Andreas, daß dieses Kreuz aus den Seifenwürfeln bestand, die ihm Willi zum Verkauf übergeben hatte. Aber das war nur der Irrtum eines Augenblicks. Andreas sah ein, daß ein Kreuz niemals aus Seife sein könne und daß es sündhaft wäre, so etwas zu denken.

      Er war gespannt auf den Gang der Verhandlung. Manchmal ging die Tür auf. Dann sah Andreas auf einer Bank im Korridor seine Frau Katharina, die kleine Anni, den Herrn von der Plattform der Straßenbahn und seltsamerweise auch den rotbackigen Händler, der den Esel gekauft hatte. Das waren die Zeugen. Wo aber blieben der Polizist und der Schaffner?

      Der Richter verlas den Namen: Andreas Pum, er murmelte die Daten, die Konfession,