Klaus G. Förg

Hinter rotem Stacheldraht


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schütten. Die Wassereimer fliegen weg und jeder stürzt sich trotz des Schreiens des Postens auf den Brei. In den zwei Minuten essen wir mehr als sonst den ganzen Tag. Der Posten schlägt mit seinem Gewehrkolben auf unsere Ärsche, aber er kann uns auch nicht wegtreiben. Erst als unter dem Brei der Schotter hervorkommt, geben wir Ruhe. Die Köche schimpfen auch und vergleichen uns mit den Hunden. Warum wir hungrige Hunde sind, wissen wir, aber warum sie so dreckige Hunde sind und uns das bisschen Essen auch noch wegschütten, wissen wir nicht. Der Teufel soll sie holen!

      Acht Tage sind wir schon auf der Fahrt und jeder sieht aus, als ob er der Leichenfrau davongelaufen wäre. Vom Haarschnitt und vom Bart gar nicht zu reden. Seit drei Monaten keine Haare mehr geschnitten und seit vierzehn Tagen nicht mehr rasiert. Mit den Nägeln kann man den Dreck von Hals, Gesicht und Brust schaben und man sieht jeden kratzen. Stundenlang fahren wir durch Maisfelder und sehen vereinzelt große Gutshöfe stehen. Wie sehr wünschen wir, hier aussteigen und arbeiten zu dürfen und Ruhe zu haben. Ruhe vor der Ungewissheit, wo wir hinkommen und was aus uns werden wird. Zehn Tage sind wir gefahren und jetzt sind wir am Ziel, einem kleinen Ort irgendwo in Rumänien.

      In der Nacht haben wir die Grenze passiert und um die Mittagszeit sind wir da. Wieder stehen wir vor dem Lagertor und warten, bis wir eingelassen werden. Wir sind in Hundertschaften aufgestellt, die Klamotten werden durchsucht und in einer Liste aufgenommen. Endlich kommt der russische Kommandant, begrüßt uns und heißt uns – welche Ironie – herzlich willkommen. Er geht durch die Reihen, schaut die Leute und die Kleider an, um schließlich einen ehemaligen Offizier zu fragen, wie die Fahrt und das Essen waren.

      Seine Antwort: »Die Posten waren gut, das Essen ebenso und vor allem reichlich.«

      Jeder hat natürlich gelauscht, was er sagt, und als wir hören, dass wir gut und reichlich gegessen hätten, geht ein Proteststurm durch die Reihen. Wir fragen, wo das Brot von den letzten sieben Tagen geblieben ist, und wer ein solches Rindvieh zu einem Offizier gemacht hat. Dem Kommandanten ist es sichtlich peinlich. Er beruhigt uns und verspricht uns für heute noch Brot, obwohl wir schon für den ganzen Tag verpflegt wurden.

      Jetzt dürfen wir einrücken. Auf einem großen freien Platz können wir uns hinlegen und schlafen. Der Platz darf nicht verlassen werden, doch jeder ist auf Neuigkeiten erpicht. Diejenigen, die schon hier sind, besonders, weil sie ja von niemandem etwas erfahren. Man sucht Bekannte, Landsleute, vor allem solche, die an der Quelle sitzen. Also die, die in der Küche sind oder indirekt damit zu tun haben, Holzhacker, Wasserträger und Heizer. Ich habe Glück und treffe einen Kumpel aus Frasdorf im Inntal. Er ist Holzhacker und hat noch einen Schlag Suppe für mich übrig. Es ist eine Fischmehlsuppe, normalerweise also reines Schweinefutter, aber ich habe so großen Hunger, dass mir die Suppe sogar schmeckt. Ludwig bekommt auch ein paar Löffel voll, weil er mit mir auch immer geteilt hat. Erst bei Dunkelheit kommt ein hochrädriger Karren, gezogen und geschoben von sechs Landsern mit dem versprochenen Brot, das so schmeckt, wie wir es von zu Hause in Erinnerung haben. Am anderen Morgen werden wir schon um vier Uhr früh geweckt zum Essenfassen. Es ist eine unheimlich lange Schlange, die sich da an den Futtertrog drängt. Ich rechne schon mit Stunden, bis wir dran sind. Aber die Köche haben Übung, überhaupt, die Organisation ist mustergültig. Vier Suppenkessel stehen im Freien und an jedem zwei Mann mit der Schöpfkelle. Es geht fast im Laufschritt vorbei, und die Suppe ist sogar gut, ja, wir haben noch nie eine so gute Suppe gehabt. Sogar ein bisschen Fett verliert sich in der Brühe.

      Jetzt geht es zur Entlausung, dann zum Baden und zu guter Letzt zum Haareschneiden und Rasieren. Es ist eine Wohltat, das warme Wasser über den Körper rieseln zu lassen. Wenn man sich so anschaut, merkt man doch, dass wir verdammt mager geworden sind. Jedem schauen die Knochen heraus, und man kann jede Rippe sehen. Manche sind nur noch Haut und Knochen. Beim Friseur muss man sich selber einseifen. Jeder macht es, so gut er kann, weil davon die Rasur abhängt. Die Friseure tragen Mützen, worauf ein Zeichen mit einem »K« genäht ist. Auf unsere Frage, was das bedeuten soll, erfahren wir, dass sie zum Regiment »Keller« gehören. Das Regiment ist im Lager gesondert untergebracht. Sie haben noch eigens einen Stacheldraht um ihre Baracken, damit kein »Andersgläubiger« reinkommt. Außerdem haben sie alle Arbeitskommandos inne, die im Lager oder außerhalb zu vergeben sind, wie Küche, Bad, Friseur, Schusterei, Schneiderei, Musik, Baukommando und Kolchose, also Landwirtschaft. Es sind sozusagen »Ober-Plenni« (»Plenni« ist russisch und heißt »Gefangene«), die aus unserer Sicht reich sind. Sie haben alles, was wir nur vom Hörensagen kennen, wie Speck, Eier, Zigaretten und Brot in Hülle und Fülle.

      Einige Friseure tragen Sowjetsterne an den Mützen, und einer von uns regt sich darüber auf und sagt, sie sollen sich schämen. Er hätte es lieber nicht sagen sollen, denn erstens bekommt er dafür ein paar Ohrfeigen, dann richten sie ihn beim Rasieren so zu, als ob ihn ein Metzger rasiert hätte.

      Als alle fertig sind, kommen wir in eine große, leere Baracke zur Untersuchung. Die geht schon fast maschinenmäßig vor sich. Jeder muss sich ausziehen, dann wird er angeschaut, ein paar Mal umgedreht und bekommt eine Nummer auf die Brust geschrieben. Entweder Eins, Zwei oder Drei. Die Einser sind die körperlich am kräftigsten. Die Zweier, wozu auch ich gehöre, sind etwas schwächer und die Dreier noch schwächer. Dann gibt es noch O.K., woraus wir »ohne Kraft« gemacht haben. Diese dürfen nicht arbeiten. Zum Schluss noch »D.K.«, wir sagen »dauernd krank«. Das sind Gefangene, die im Lazarett liegen oder ins Lazarett kommen und auf die schon der Totengräber wartet. Nach dieser Kategorie werden wir neu eingeteilt. Alle Einser, Zweier und Dreier kommen zusammen. Wir sind in der Gruppe zehn Mann – alles Bayern. Ludwig ist noch bei mir, dann noch ein Kamerad aus Unterfranken, von Beruf Pater. Ich habe mich später eng mit ihm zusammengeschlossen und habe keinen besseren und selbstloseren Kameraden mehr kennengelernt als gerade Bruder Theo. Es wird uns eine Baracke zugewiesen, in der wir bleiben sollen, bis wir wieder wegkommen, denn dass wir hier nicht bleiben können, ist uns klar. Schon in der Nacht ziehen wir fluchtartig aus, weil wir nicht schlafen können. Es gibt hier Wanzen in rauen Mengen. Sogar an den Tischen und Bänken kriechen sie herum. Wenn man eine davon zerdrückt, stinken die Finger ganz fürchterlich. Aber eigenartigerweise muss man trotz des Ekels immer wieder dran riechen. Wir schlafen also wieder einmal im Freien.

      Es ist sandiger Boden, fast wie in einer Wüste. Auch die Hitze des Tages und die Kälte der Nächte erinnern daran. Trotz der Decken frieren wir oft. Was die Wanzen in den Baracken sind, das sind die Ratten im Freien. Man hat keine Ruhe vor ihnen. Bei Nacht springen sie über uns hinweg, kriechen in unserem Gepäck herum und pfeifen uns was vor. Auch am Tage sind sie nicht gerade schüchtern. Einem Kameraden neben mir haben sie am hellen Tag die eben empfangene Tagesration Brot genommen und in eines der vielen Löcher gezogen. Manchmal, wenn es ein bisschen ruhiger ist, sieht man Ratten in der Sonne spielen. Besonders in der Nähe von Latrinen, von denen es viele hier im Lager gibt, sind sie sehr lebhaft. Trotz des Spätsommers herrscht hier eine afrikanische Hitze. Wasser ist Mangelware. Was der einzige Brunnen im Lager hergibt, wird fast restlos für die Küche gebraucht, die Kranken brauchen auch dringend Wasser. Kein Wunder, dass der Brunnen Tag und Nacht belagert und bewacht wird. Die ganze Zeit ist ein Gefangener mit einem Prügel dort, aber er hat sich als zu schwach erwiesen, als es einmal zusätzlich zum Abendessen Salzfisch gab.

      Der Fisch wurde an uns so ausgegeben, wie er eben war. Kleine Salzstücke klebten noch an den Schuppen. Trotzdem wurde er von jedem mit Heißhunger samt Gräten gegessen. Daraufhin erfolgte der Sturm auf den Brunnen, um den aufkommenden Durst zu löschen. Der Posten verwehrte uns mit dem Prügel die Wasserentnahme, aber was ist einer gegen viele. Wir hätten den ganzen Brunnen leergesoffen, wenn nicht ein russischer Posten mit Gewehr gekommen wäre und uns vertrieben hätte. Aber auch er musste ein paar Mal schießen, bis wir gingen.

      Die Gegend ist hier ganz öde und leer. Außer dem Lager sieht man kein Haus. Das Gelände ist eben wie ein Tisch und es weht dauernd ein leichter Wind. Er tut uns bei der Hitze gut, aber beim Essen hat man immer etwas Sand zwischen den Zähnen. Vor allem, wenn man Brot isst, knirscht es im Mund. Einmal haben wir auch eine Windhose gesehen. Es war eine tänzelnde Sandschlange, die der Wind senkrecht an uns vorüberblies. Sie hatte eine Höhe von ungefähr dreißig bis vierzig Metern.

      Die Tage verlaufen eintönig, langsam, einer wie der andere. Solange man etwas zu rauchen hat, geht es. Bis jetzt haben wir in dieser Hinsicht keine Not, denn das Regiment »Keller« ist unsere